Frankreich: Streik- und Protesttag am 4. April - stärkste Mobilisierung

Das Manöver ist nicht aufgegangen.

Die Fernsehansprache, die der französische Präsident Jacques Chirac am vorigen Freitag abend vor fast 21 Millionen Zuschauern (dies entspricht einer Einschaltquote von stolzen 92,5 Prozent) hielt, konnte die aufgewühlte soziale Situation nicht beruhigen. Die Mobilisierung auf den Straßen fiel am gestrigen Dienstag noch stärker aus, als vor 8 Tagen.

In Paris dauerte der Demonstrationszug etwas über 4 Stunden zwischen dem Eintreffen der Spitze und des hintersten Blocks auf der Place d'Italie, im Süden der Hauptstadt. Damit dauerte er circa 10 Minuten länger als jener vom vorigen Dienstag (28. März), der dieselbe Route genommen hatte, nur in umgekehrter Richtung gelaufen war. Vor allem aber war die «Masse» der Demonstrierenden dieses Mal noch wesentlich kompakter und dichter als beim vorigen Mal, und neben der Straße wurden des öfteren auch die Trottoirs benutzt, um überhaupt von der Stelle zu kommen. Nach realistischen Schätzungen kann man von circa 300.000 DemonstrantInnen am vorigen Dienstag, und von eher rund 400.000 am gestrigen Tag ausgehen.

(Die Polizei gibt für gestern die Zahl von «82.000» an, die unterhalb der von voriger Woche liegt, und versucht damit den Eindruck eines Rückgangs der Mobilisierung zu erwecken. Die CGT ihrerseits gibt in beiden Fällen «700.000» DemonstrantInnen an. Falls die CGT endlich mal mit dem sinnlosen Aufblähen ihrer Angaben aufhören würde, die dafür sorgt, dass sie nach der hohen Zahl von voriger Woche keine noch höhere angeben konnte, ohne lächerlich zu wirken - dann hätte auch sie zutreffend angeben können, dass die Mobilisierung gestern stärker war als am 28. März.)

Auffällig war am gestrigen Dienstag die Präsenz vieler Transparente und Demoblöcke, die neu in der Mobilisierung waren, verglichen mit den Demos der Vorwochen. Zahlreiche Mittel- und Oberschulen waren mit eigenen Blöcken und Transparenten hinzugekommen, oftmals gemischt aus LehrerInnen und SchülerInnen bestehend, zum Teil mit Eltern durchmischt. Bemerkenswert war ein gemeinsamer Block von Studierenden und Sans Papiers («illegalen» EinwandererInnen). Momentan halten im südlichen 14. Bezirk von Paris mehrere hundert Sans papiers, denen sich gegen den CPE opponierende StudentInnen vor Ort angeschlossen haben, ein größeres öffentliches Gebäude besetzt. Dieses wurde früher durch die Ausländerbehörden genutzt wurde und stand ansonsten, bis vor kurzem, leer. Die gemeinsame Besetzung dauert bereits seit dem 18. März an, dem zehnten Jahrestag des 18. März 1996, an dem mit der Besetzung der Pariser Kirche Saint-Ambroise die neue Sans papiers- und Solidaritätsbewegung anfing.

Im Anschluss an die Demonstration kam es auf der Place d'Italie zu Scharmützeln mit der Polizei. Einige hundert DemonstrantInnen waren auf dem Platz geblieben, während Banlieue-Jugendliche zunächst einen großeren Pulk von Zivilpolizisten zu attackieren versuchten, worauf ein brutaler Einsatz der uiformierten Bereitschaftspolizei (CRS) antwortete. Die ganze Zeit über blieben aber auch sonstige, friedliche DemonstrantInnen in der Nähe, was eine totale Eskalation der (Polizei-)Gewalt verhinderte oder sicherlich eindämmte. Das hässliche Szenario vom Platz vor dem Invalidendom, wo am 23. März Jugendgangs aus den Vorstädten auch einzelne DemonstrantInnen angriffen und beraubten, wiederholte sich nicht einmal im Ansatz: Vorherrschend war am Dienstag abend eher die gemeinsame Solidarität gegenüber Polizeiübergriffen. Es handelt sich natürlich auch nicht um dasselbe Profil von Jugendlichengruppen aus den Vorstädten, die durchaus unterschiedlich «drauf» sind. Im Vorfeld hatte es in den öffentlichen Verkehrsmitteln bereits systematische Kontrollen gegenüber Vorstadtjugendlichen gegeben, die anlässlich der Demonstration in das Pariser Stadtgebiet fuhren. Und am Pariser Nordbahnhof (Gare du Nord) verhinderte ein größerer Polizeikordon das Umsteigen vom Vorortzug RER B, der aus den nördlichen Pariser Banlieues dort eintrifft, in die Métro.

Ein (Schwer- ?) Verletzter wurde gegen 21 Uhr durch die Sanitäter der Feuerwehr evakuiert. Kurz darauf begab sich der Pariser Polizeipräfekt persönlich, Pierre Mutz, in Anzug und Krawatte auf den Platz, um den Einsatz zu überwachen, umringt von einigen uniformierten und Dutzend zivil gekleideten Polizisten. Nach wie vor ist auffällig, dass viele Zivilpolizisten sich durch Aufkleber der radikalen Linken oder von Gewerkschaften tarnen, was die Angehörigen von deren eigenen Ordnerdiensten künftig potenziell in Gefahr bringen könnte. Die LCR, eine Partei der radikalen Linken, protestierte am Dienstag öffentlich gegen die missbräuchliche Benutzung ihrer Aufkleber (die sich die Leute massenhaft in den Demozügen anstecken, neben denen der KP zum Thema, die ebenfalls ziemlich gut gemacht) durch Polizisten. Ihre Reaktion wurde auch durch die Pariser Abendzeitung ‘Le Monde' abgedruckt.

Anders als am vorigen Dienstag auf der Place de la République kooperierte dieses Mal der Orderdienst der Gewerkschaften, und vor allem jener der CGT, nicht offensichtlich mit den zivil Greiftrupps der Polizei gegen die Vorstadtjugendlichen. Die Tageszeitung ‘Libération' hatte am Mittwoch oder Donnerstag voriger Woche explizit bestätigt, dass es am 28. März eine (informelle, aber abgesprochene) Kooperation zwischen Zivilpolizisten und Ordnerdiensten gegeben habe, um jugendliche Randalierer vor allem aus Vorstadtgangs aufzugreifen. Dies war die «Gegenleistung» für die offiziell durch die CGT proklamierte Ablehnung des Ansinnens von Innenminister Nicolas Sarkozy, der im Vorfeld gefordert bzw. angekündigt hatte, dass die Polizei auch innerhalb ( !) der Demonstrationsblöcke – d.h. hinter den Linien der Ordnerdienstketten – präsent sein und Verhaftungen vornehmen solle.

Landesweit: Über zwei Millionen

In ganz Frankreich waren (nach realistischen Schätzungen) über 2 Millionen DemonstrantInnen unterwegs. Auch die frankreichweite Mobilisierung liegt ein bisschen über jener vom vorigen Dienstag (gut zwei Millionen). Aus vielen Städten wurden höhere DemonstrantInnenzahl vermeldet, so aus Marseille, wo die Abstände zwischen den Veranstalter- und den Polizeiangaben nach wie vor grotesk sind. Für Marseille gibt die Polizei 35.000 DemonstrantInnen an (und damit im Vergleich zu ihren eigenen Angaben aus der Vorwoche eine höhere Zahl), die VeranstalterInnen sprechen gleichbleibend von 250.000 Teilnehmern. Für Nantes geben die VeranstalterInnen 100.000 DemonstrantInnen an und die Polizei 52.000, in Bordeaux sind es respektive 120.000 und 45.000. Alle vier Angaben liegen über den Zahlen der jeweiligen Seite für die Vorwoche. In Grenoble demonstrierten 60.000 laut VeranstalterInnen (gleichbleibend) und 28.000 laut Polizei (eine höhere Anzahl als in der Vorwoche) und in Toulouse 90.000 laut OrganisatorInnen (ein Zuwachs) und 35.000 laut Polizei (dies wäre eine Abnahme). Für Avignon sprechen realistisch einschätzende KorrespondentInnen von 25.000 an diesem Dienstag statt 20.000 vorige Woche (Organisatoren; 25.000 – gleichbleibend, Polizei: 15.000 und Zuwachs).

Der CPE: Schon mausetot ? Vorsicht !

Zwar wiegen viele Medien die OpponentInnen gegen den CPE derzeit in trügerischer Sicherheit und im Glauben, schon jetzt halb gewonnen zu haben. So übertitelte die sozialdemokratisch-linksliberale Tageszeitung ‘Libération' (die gegen den CPE eintritt) ihre Ausgabe vom Dienstag vormittag: «CPE, Cortège pour un enterrement». Also sinngemäß: «CPE, Marsch für eine Beerdigung». Dies erweckt den Eindruck, dass der CPE schon mausetot sei.

Aber das Gesetz, das am Sonntag - das Datum vom Freitag, 31. März tragend - nunmehr im ‘Journal Officiel' (Amtsblatt, Gesetzesanzeiger) abgedruckt wurde, ist durch die Unterschrift des Präsidenten und durch die Publikation im JO nunmehr voll anwendbar. Zwar forderte Arbeits- und Sozialminister Jean-Louis Borloo am Montag früh die Betriebe auf, derzeit bitte noch keinen Vertrag vom Typ CPE zu unterzeichnen. Dies hat aber keinerlei rechtlich bindende Wirkung. Der linksliberale Abgeordnete Roger-Gérard Schwartzenberger ergriff deswegen die sarkastisch begründete Initiative, Strafanzeige gegen Minister Borloo aufgrund des «Versuchs, die Anwendung eines geltenden Gesetzes zu verhindern oder zu blockieren» zu stellen. Dies ist nach dem französischen Strafgesetzbuch (Code Pénal) ein Straftatbestand, der mit Geld- und Haftstrafen geahndet werden kann.

Innenminister Sarkozy wird jetzt im Regierungslager die Initiative übernehmen und mit den Gewerkschaftsorganisationen sowie Studierendenverbände über die nähere Zukunft des CPE verhandeln. Der Premierminister Dominique de Villepin ist damit zum Teil desavouiert. Sarkozy, der ansonsten im Prinzip für eine wesentlich härtere Gangart beim neoliberalen Umbau der Sozialsysteme und des Arbeitsrechts steht, versucht sich derzeit an dieser Frage als Mann des «sozialen Dialogs» zu profilieren. Die auif Enthüllungen abonnierte Wochenzeitung ‘Le Canard enchaîné' vom Mittwoch morgen zitiert ihn sogar mit den Worten, die am Wochenende gegenüber seiner unmittelbaren Umgebung fielen: «In meinem Kopf ist der CPE schon tot. In 14 Tagen bleibt nichts davon übrig. (...) Diese ganze Geschichte verleiht mir eine soziale Dimension, die mir fehlte.» Wen Sarkozy eigentlich politisch töten möchte, das ist freilich nicht wirklich der CPE, sondern vielmehr der amtierende Premierminister Dominique de Villepin – sein großer Rivale im Kampf um die konservative Präsidentschaftskandidatur.

Wird Sarkozy also den CPE seiner persönlichen politischen Zukunft und seinen Karriererabsichten «opfern»? So simpel wird es wohl kaum ablaufen. Präsident Chirac gab Sarkozy, der jetzt als Verhandlungsführer gegenüber den Gewerkschaften auftritt (wie bereits anlässlich der sozialen Krise um die «Rentenreform» im Juni 2003, wo er den «starken Mann» statt des total auf die Seite gedrängten Bildungsministers Luc Ferry spielen konnte), strikte inhaltliche Vorgaben. Nur in Absprache mit den zuständigen Ministern und ohne vorschnelle Beerdigung des CPE dürfe Sarkozy verhandeln, so ist es der Dienstagsausgabe von ‘Libération' zu entnehmen. Und ‘Le Canard enchaîné' vom Mittwoch zitiert den eifersüchtigen und gekränkten, da vorübergehend marginalisierten Premierminister de Villepin – der an einige kleine und mittelständische Betriebe die Empfehlung gegeben habe, doch bitte jetzt so schnell wie möglich einige CPE abzuschließen, um Tatsachen zu schaffen.

Den heftigen sozialen Protest und die Opposition auf die Straße konnte dies aber nicht zur Ruhe bringen, während die konservative Regierung sich zumindest erhofft hatte, einen Stillstand oder Rückgang der Mobilisierung ankündigen zu können.

Artikel von Bernard Schmid, Paris, vom 5.4.06, unter:Labournet

Jungle World vom 5. April

Spitzbuben unter uns

Über die Demonstrationen gegen den CPE und die Beteiligung von Banden aus den Banlieues. Jungle World dokumentiert einen Text aus dem Umfeld der anarchosyndikalistischen CNT

Die Jugendlichen, die für die Mehrzahl der Gewalttätigkeiten auf der Pariser Demonstration vom 23. März (inclusive der Gewalttätigkeiten gegenüber anderen Demonstranten) verantwortlich sind, haben oftmals irrige Analysen hervorgerufen. Nicht einmal die Bezeichnung für sie ist klar. »Jugendliche aus den Banlieues«? »Jugendliche mit Migrationshintergrund«? »Casseurs« (etwa: Chaoten)? »Abschaum«? In Ermangelung eines besseren soll in der Folge der Ausdruck »lascars« (et­wa: Spitzbuben) den anderen vorgezogen werden.


Eine kollektive Macht …

Die Gewalt der Lascars kann als Ausdruck einer kollektiven Macht verstanden werden. Die Banden, die sich in den »Pro­blem­vier­teln« auf einer ähnlichen Basis zusammenfinden, bestehen hauptsächlich aus Jugend­lichen, die zahlreichen sozialen, geographischen, schulischen usw. Ausschlüssen unterworfen sind. Ihr Zusammenschluss in gewalttätigen Banden ist ein Mittel zu existieren, eine Art Status in den Vierteln zu erreichen. Ihre Gewalt richtet sich vor allem gegen jene, die sich zu »Gegnern« der Bande erklären: Polizei, nervende Nachbarn usw. Die Stärke der Lascars resultiert hauptsächlich aus ihrer Anzahl und ihrer Fähigkeit, zusammen zu agieren, aus ihrer »Solidarität« (ausschließlich untereinander) und aus deren Gegenstück, dem Gesetz des Schweigens und der Verpflichtung, der Gruppe zu folgen.

Die Unmöglichkeit für die Polizei, sie in Schranken zu halten, die Angst, die sie künftig auch außerhalb der Grenzen ihres Viertels hervorrufen, und die Möglichkeit, sich bei Gelegenheit (vorwiegend anlässlich von Schüler­demonstrationen) in großen Gruppen zu konzentrieren, erlauben es ihnen, als eine kollektive Macht von wachsender Stärke zu erscheinen: eine autonome und gewalttätige soziale Gruppe, die fähig ist, dem Staat und der Polizei die Stirn zu bieten und Schrecken zu verbreiten. Isoliert und mit dem Wunsch, sich zu integrieren, ist der Lascar eine Quelle des Misstrauens. In der Gruppe und gestützt auf eine gewalttätige Praxis, wird er eine Quelle der Angst für all jene, deren Weg er kreuzt, in der Lage, Regierungen zittern zu lassen und Polizeieinheiten, die CRS, zum Rückzug zu bewegen. In verschiedener Hinsicht erinnern autonome Gruppen, die zu einer kollektiven Gewalt in der Lage sind, die sogar die Kapazitäten der Repressivkräfte übersteigen kann, an die historische Konstitution des Proletariats als potenziell revolutionäre Kraft. Allerdings mit einem wichtigen Unterschied.


… ohne positive Perspektive

Dort, wo die Gewalttätigkeit des Proletariats des 19. und 20. Jahrhunderts sich in der Perspektive eines um die Fabrik zentrierten Kampfs gegen das Unternehmertum oder, für die fortgeschrittensten, eines Kampfs gegen den Staat in der Perspektive einer kollektiven Eroberung der Produktionsmittel (Kollektivierung der Fabriken, des Bodens) herausbildete, hat die Gewalt der Lascars ihnen keine Auswege geschaffen. Das Ursprungsterrain der Gewalt ist nicht mehr die Fabrik, der Arbeitsplatz, sondern der Lebensbereich, wo die Gewalt vor allem gegen die direkte Nachbarschaft ausgeübt wird. Der gewalttätige Ausdruck entwickelt sich nicht mehr im Kontext sozialer Kämpfe gegen die kapitalistische Ausbeutung, sondern genügt sich selbst. Als Gruppe, die ihre Macht zeigen will, wenden die Lascars die Gewalt schließlich gegen einen Gegner von Format: den Staat. Der Staat wird nicht als Verteidiger der Bourgeoisie anvisiert, sondern eher als rivalisierende Macht. Die antistaatliche Gewalt der Lascars beschränkt sich nicht auf Aktionen gegen die Polizei, sondern nimmt alle Teile des Staats ins Visier, inclusive der lebenswichtigen öffentlichen Dienste, die dieser unterhält: Feuerwehr, Schulen, öffentliche Verkehrsmittel, soziokulturelle Zentren. Meist treffen diese Angriffe vor allem die Bevölkerung des Vier­tels und verstärken umso mehr den sozialen und geografischen Ausschluss.

Die Lascars sind nicht Träger eines positiven Projekts. Lediglich einige vage Forderungen nach »Gerechtigkeit in der Banlieue«, gegen den Rassismus und gegen die polizeiliche Will­kür tauchen auf, aber ohne wirklich mögliche Vorstellungen von einem Ausweg. Die Vorwürfe gegen den Staat sind Teil eines überaus konfusen ideologischen Gemenges, dessen hervorstechendste Charakterzüge der Sexismus (die Banden sind vorwiegend männlich, auch wenn einige Mädchen ihnen folgen können, ohne wirklich an den Gewalttätigkeiten beteiligt zu sein), die Homophobie und der Konsumismus (siehe die Bedeutung der Marken bei der Kleidung) sind. Manchmal kann Rassismus das Arsenal vervollständigen, aber der Hauptzug bleibt das Misstrauen gegenüber denen, die nicht ihre Vorgehensweise teilen. Die generelle Ablehnung des politischen Diskurses, von rechts bis links, wird oft von einem generellen Fehlen politischer und gewerkschaftlicher Kultur begleitet.


SA in HipHop-Hosen?

Einige wollen in den Lascars Faschisten sehen und ziehen eine Parallele zur SA in den zwanziger und dreißiger Jahren, die auf vor­sätzliche Gewalt gegen die Arbeiterbewegung spezialisiert war. Aber die Gewalt der Lascars richtet sich nur sporadisch gegen die sozialen Bewegungen. In den gewerkschaftlichen oder studentischen Demoblöcken versuchen die Lascars vor allem, sich eher isolierte (oder als solche identifizierte) Ziele vorzunehmen, als freiwillig die Gesamtheit einer Demonstration als solche zu terrorisieren. Solange sie sich in kleinen Gruppen bewegen, suchen sie keine direkte Konfronta­tion mit den Ordnerdiensten der gewerkschaftlichen Umzüge. Ihre Haltung besteht eher in einer totalen Gleichgültigkeit gegenüber der Gewerkschaftsbewegung, die in Aggressivität umschlagen kann, wenn sie ihre Überlegenheit zu beweisen suchen. Der Vergleich mit der SA fällt flach, selbst wenn die Präsenz der Lascars, die Demonstranten angreifen, unleugbar ein Demobilisierungsfaktor ist, der die Mobilisierungen aus Angst zurückgehen lässt.


Gesteuert von der Polizei?

Wegen der Gewalt, die sie gegen die Demonstranten ausüben, und wegen der Auswirkungen auf die Mobilisierung scheint die Anwesenheit dieser Banden der Macht zu passen. Einige ziehen daraus, ein wenig voreilig und einer guten Verschwörungstheorie würdig, den Schluss, dass diejenigen, die Demonstranten angreifen, von der Polizei bezahlt oder gesteuert seien. Die Theorie hat den Vorteil, sich auf billige Weise die Illusion einer Einheit im Denken zwischen linken oder linksradikalen Demonstranten und den Lascars zu erhalten.

Unglücklicherweise würden die letzt­genannten, infolge polizeilicher Manipulationen, »gegen ihr Lager« spielen und anstelle der CRS das miese Geschäft besorgen. Die Beobachtung der Vorgehensweise der Banden und ihrer quasi alltäglichen Gewalt, Bedingung und Träger ihrer Affirmation, legt nahe, dass sie keineswegs bezahlt oder aufgestachelt werden müssen, um ihre Gewalt, egal gegen welches Ziel, zu demons­trieren. Die Gewalt der Banden gegenüber Personen, die als Zivilpolizisten verdächtigt werden, trägt auch nicht zur These des Kom­plotts bei.


Eine revolutionäre Avantgarde?

Das Niveau des politischen Bewusstseins der Lascars ist sehr niedrig. Die Gruppensolidarität führt sie oft dazu, dem Schlimmsten unter ihnen zu folgen. Ein Mitglied der Bande wird nach einem Diebstahl angepöbelt? Dann ist es die ganze Ban­de, die den attackiert, der sich entgegenstellt. Ein Bandenmitglied be­ginnt, den Laden eines Händlers zu zerstören? Der Herdentrieb wird dafür sorgen, dass sich Dutzende Mitläufer ihm anschließen. Ohne politisches Bewusstsein und mit einer Gewalt, die sich ohne Ziel au­ßer einer Bestätigung der eigenen Macht ausdrückt, ist man ziemlich weit entfernt von einem Gebrauch der Gewalt, wie sie im Zentrum der Arbeiterkämpfe erscheinen konnte. Man muss aber auch nicht glauben, dass alle Lascars völlige Idioten sind. Der kulturelle Ausschluss und der schulische Misserfolg hinterlassen selbstverständlich ihre Spuren, und das kollektive Verhalten lässt manchmal eher an eine Horde von Hyänen als an das Resultat einer menschlichen Organisation denken. Aber die Mitglieder dieser Banden sind ebenso zu Reflexionen fähig, im Bewusstsein, dass ihre Stärke den Staat beunruhigt. Einige Lascars fordern bewusst, die Verantwortlichen für die gegenwärtige soziale Lage herauszuforden. Merken wir an, dass das Unternehmertum für sie keinen Teil der ausgemachten Feinde darstellt.


Die Lascars und wir…

Die Anwesenheit der Banden in den sozialen Bewegungen (insbesondere in den Jugendbewegungen) mit der Gewalt, die sie ausdrücken, stellt ein konkretes und unmittelbares Problem für die Sicherheit der Demonstration dar, zumindest in der Pariser Region. Die Hoffnung, an ihr Bewusstsein appellieren zu können oder unter ihnen ein politisches Bewusstsein zu propagieren, scheint in der gegenwärtigen Situation ziemlich abwegig zu sein: Für die Lascars, die sich permanent in einem realen Kräftemessen befinden, mangelt es den Generälen ohne Armee aus den linksradikalen oder libertären Organisationen an Glaubwürdigkeit, und die Vernetzung von Aktivisten in den »Problemvierteln« ist weit davon entfernt, ausreichend zu sein. Die islamistische reli­giö­se extreme Rechte, die ein Aktivistennetz besitzt, das eher geeignet wäre, die Lascars anzuziehen, hat es bislang nicht geschafft, sie zu strukturieren und zu benutzen. Sollte eine solche Fusion zustande kommen, wäre der Ausdruck »SA in Hiphop-Hosen« nicht mehr wirklich falsch.

Wo gewalttätige Aktivisten und Lascars in ähnlich großer Zahl sind, hat man gesehen, dass die Banden sich eher den entschlossensten Demonstranten anschließen, wie bei den Zusammenstößen mit der Polizei in Rennes oder bei denen auf der Place de la Nation am 18. März. Auf Situationen wie bei der Demonstration am 23. März, wo die Banden in großer Zahl anwesend sind und die Demons­tranten angreifen, müssen wir uns vorbereiten. Sind wir nicht fähig, für die Sicherheit der Demonstrationen zu sorgen, kündigt sich ein Niedergang der Bewegung an.

Der Versuchung einer direkten Konfrontation ist zu widerstehen, ebenso wie der einer Zusammenarbeit mit der Polizei, die langfristig zu einer totalen Identifizierung von sozialer Bewegung und gewerkschaftlich-polizeilicher Bewegung führen und die Banden dazu bringen wird, sich bewusst mit dem Ziel zu organisieren, die Umzüge zu zerschlagen; dies würde die Aussicht darauf trüben, dass das Bewusstsein der Interessengleichheit zwischen Lascars und sozialer Bewegung entsteht.


Der hier dokumentierte Text wurde übersetzt und redaktionell gekürzt. Er erschien anonym und lässt sich unter mondialisme.org nachlesen