Einige persönliche Impressionen vom Internationalen anarchistischen Treffen in St. Imier (8.-12. August 2012)

Gewöhnlich pflegen größere anarchistische Treffen und Kongresse in den Metropolen dieser Welt stattzufinden, wo es eine genügend große lokale Szene und eine entsprechende Infrastruktur gibt, um die logistischen Probleme bewältigen zu können.
Von daher war St. Imier, ein beschaulicher Dorf im Schweizer Jura ein eher ungewöhnlicher Austragungsort. Allerdings einer mit Geschichte, was wiederum die Wahl, wenigstens zum Teil, erklärt. Denn von hier aus nahmen Anarchismus und Anarchosyndikalismus als organisierte, internationale Bewegungen ihren Ausgang. Nämlich vor genau 140 Jahren.

Und das kam so: Auf dem ominösen Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation von 1872 in Den Haag wurde auf Betreiben von Marx nicht nur Bakunin aus der Internationale ausgeschlossen, sondern, was viel gravierender war, der Strömungspluralismus und die föderal-basisdemokratische Struktur der Organisation beseitigt.
Nun war auch Marx klar, dass dieser mit manipulierten Mehrheiten zustande gekommene Triumph von kurzer Dauer sein würde, weswegen er den Sitz der (weitestgehend europäischen) Internationale ins ferne New York verlegen ließ, was darauf hinauslief, sie in aller Stille zu beerdigen. Nach der Logik aller autoritären Persönlichkeiten: lieber alles kaputtmachen als dem (vermeintlichen) Gegner überlassen.
Die unterlegene „Minderheit“ (eigentlich nach der Zahl der Sektionen und erst recht der Mitglieder die große Mehrheit) traf sich daraufhin im besagten St. Imier zu einem improvisierten Gegenkongress, auf dem am 15. und 16. September 1872 im örtlichen „Hôtel Central“ die „antiautoritäre Internationale“ gegründet wurde. Diese „Internationale“ gibt es längst nicht mehr, das Gebäude aber existiert nach wie vor, auch wenn es derzeit leersteht und einen etwas heruntergekommenen Eindruck macht – ganz im Gegensatz zu der offenbar erst kürzlich erneuerten Gedenktafel an der Fassade, die an das Ereignis vor 140 Jahren erinnert.
Womit wir wieder bei der Ausgangsfrage sind: Warum St. Imier? „Historische Orte“ gibt es schließlich viele. Warum ausgerechnet die Schweizer Provinz? Nun, einmal davon abgesehen, dass es ein gut zu erreichender Ort in der Mitte Westeuropas ist, hat sich hier untergründig etwas von der libertären Tradition des 19. Jahrhunderts bewahrt. Anders ist es wohl kaum zu erklären, dass sich an einem Ort von weniger als 5000 Einwohnern sozusagen in der Dorfmitte ein libertäres Kulturzentrum befindet, das selbstverwaltete „Espace noir“, eine Mischung aus Dorfkneipe, kommunalem Kino, Galerie und anarchistischem Buchladen.
Davon zeugt auch die Tatsache, dass die rebellische Tradition, von den anarchistischen Uhrenarbeitern der Juraföderation im 19. Jahrhundert bis zum heutigen „Espace noir“, anerkannter Teil der Lokalgeschichte ist, was aus der Ortschronik am Bahnhof ebenso hervorgeht wie aus den an zahlreichen Gebäuden angebrachten Gedenktafeln.
Letztlich bedarf es, um ein Treffen mit mehreren tausend Personen durchzuführen, einer starken lokale Verankerung. Schließlich ist man nicht nur auf die Akzeptanz der Bevölkerung angewiesen, sondern auf deren aktive Kooperation. Und in dieser Hinsicht ist tatsächlich schon im Vorfeld Erstaunliches geleistet worden. Für die knapp hundert „offiziellen“ Veranstaltungen während der fünf Tage des Treffens stand die gesamte Infrastruktur des Ortes zur Verfügung, der große Konzertsaal der Gemeinde, das Eisstadion und ein halbes Dutzend weiterer Veranstaltungsorte.
Und vor allem hatte man es durchweg mit gelassenen, eher freundlich-interessierten als verängstigten Einheimischen zu tun. Die Läden waren offen, die Stimmung war entspannt, der Dorfalltag ging seinen üblichen Gang. Jedenfalls habe ich keine verbarrikadierten Häuser, in denen zitternde Eidgenoss_innen auf den Weltuntergang warten, gesichtet. Auch die Ordnungskräfte hielten sich merklich zurück. Während der gesamten Zeit des Treffens habe ich lediglich einen Streifenwagen gesehen. Zweifellos werden in Biel (der nächstgrößeren Stadt) Einsatzkräfte bereit gestanden haben – und wer sich die Schweizer Polizei als Ansammlung phlegmatischer Dorfsheriffs vorstellt, liegt definitiv falsch –, doch davon war vor Ort nichts zu spüren.
Der Wettergott tat ein Übriges: fünf Tage Sonnenschein und blauer Himmel und wegen der Höhenlage überaus angenehme Temperaturen. Das war sicherlich ein großes Glück, denn auf diese Weise wurde das größte logistische Problem, das der Unterbringung von mehreren tausend Personen, zumindest gemildert. In der Tat: wenn auf jede_n Einwohner_in nahezu ein_e Besucher_in kommt, dann schafft das ein Problem. Auf dem Berg über dem Dorf, dem Mont Soleil, wurde ein Campingplatz eingerichtet, der, für 2000 Personen ausgelegt, sich rasch als zu klein erwies. Ein zweiter Campingplatz kam hinzu, der aber ebenfalls schnell ausgebucht war. So entstanden rund um den Ort (mit Genehmigung der Grundeigentümer) noch einige weitere, kleinere Zeltlager. Bei aller Improvisation – und eben wetterbegünstigt – erwies sich das Campen als akzeptable und vor allem preiswerte Lösung (8 bzw. 12 Euro für vier Übernachtungen waren selbst für chronisch abgebrannte Anarchos und Anarchas ein erschwinglicher Tarif).
Die Sache hatte nur einen Haken. Während die Veranstaltungsorte und Treffpunkte im Dorf alle eng beisammenlagen und innerhalb von Minuten zu erreichen waren, lagen zwischen Dorf und Campingplatz immerhin mehrere hundert Höhenmeter. Wer mit dem Auto anreiste, war somit klar im Vorteil, wer zu Fuß war, musste einen beschwerlichen, mehr als einstündigen Aufstieg in Kauf nehmen. Die dritte Alternative, die Drahtseilbahn zwischen Dorf und Berg, verkehrte nur wenige Male am Tag. Immerhin wurde eine Zusatzfahrt um 3 Uhr nachts arrangiert, um Nachtschwärmer und Konzertbesucher zu ihren Schlafplätzen zu bringen.
Was hat sich also, jenseits dieser überwiegend positiven Rahmenbedingungen, während der Tage in St. Imier abgespielt und was hat es gebracht? Nun, das lässt sich aus einer Einzelperspektive natürlich nur schwer beurteilen und diesbezüglich sei auf die bereits veröffentlichten Presse- und Erlebnisberichte verwiesen (z.B. bei syndikalismus.wordpress.com). Deshalb nur einige allgemeine Bemerkungen und Eindrücke.
Das kompakte Veranstaltungsprogramm war nicht nur durchweg gut besucht, sondern zumeist hoffnungslos überlaufen. Das beeinträchtigte leider die inhaltliche Qualität vieler Veranstaltungen ebenso sehr wie Tatsache, dass die Übersetzungsproblematik sträflich unterschätzt wurde. Das betrifft in erster Linie die französischen Veranstalter, die häufig genug von der Tatsache, dass es Menschen gibt, die Französisch weder sprechen noch verstehen, schlicht und einfach überfordert waren. Auch wenn ein strenger Seminar- und Kolloquiumscharakter weder angestrebt wurde, noch sinnvoll oder wünschenswert gewesen wäre, hätten die Diskussionen durchaus strategisch-zielorientierter sein können.
Stärkung des Internationalismus: Gerade in einer überwiegend dezentral-lokalistischen Bewegung wie dem Anarchismus/Anarchosyndikalismus, in der überregional-internationalistische Strukturen eher schwach ausgeprägt sind, kommt solchen Treffen natürlich eine erhöhte Bedeutung als Austausch- und Kommunikationsplattform zu, gerade um den kommenden Herausforderungen (auf europäischer wie globaler Ebene) besser gewachsen zu sein. In diesem Punkt war St. Imier meines Erachtens ein Erfolg. Im Grunde müssten Treffen dieser Art in regelmäßigen und kürzeren Abständen stattfinden, was sich aber schon aus organisatorischen Gründen leider kaum verwirklichen lassen wird.
Das Mischungsverhältnis zwischen der „offiziellen“ (Veranstaltungsprogramm, Buchmesse, IFA-Kongress1) und der „informellen“ Dimension des Treffens war durchaus gelungen. Mit Letzterem ist nicht nur bierseliges Beisammensein oder Klampfenromantik am Lagerfeuer gemeint, sondern die Vielzahl verbindlicher, wenn auch spontan organisierter oder sich ergebender Diskussionen, Koordinationen, Planungen usw.
Selbstverständlich gehörte dazu auch der Charme zwangslosen Plauderns über Sprachgrenzen hinweg oder – warum nicht? – der schweifende Blick über die Berge (kein monumentales Alpenpanorama, eher Mittelgebirge, aber immerhin!) oder auch der Genuss lässigen Flanierens durch sonnig-idyllische Kleinstadtgassen, verbunden mit der Genugtuung, dabei alle paar Meter auf mehr oder weniger große Gruppen von Gleichgesinnten zu treffen.
M.