Andreas Graf: Die Familie Krüschet im Widerstand

Anders als die von der KPD bzw. der SPD abgespaltenen Kleinorganisationen verkörperte die 1919 gegründete Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) einen autonomen Strang der Arbeiterbewegung, dessen Anfänge in das 19. Jahrhundert zurückreichen.

Ihr Selbstverständnis war das einer wirtschaftlichen Kampforganisation und kulturradikalen Bewegung zugleich, gleichermaßen abgegrenzt gegen die KPD wie gegen die SPD.

Am Ende der Weimarer Republik zählte dieser organisierte Anarchismus der großbetrieblichen Arbeiterschaft in Industrie und Bergbau, der einstmals, vor allem im Ruhrgebiet, eine regionale Massenbewegung gewesen war, nur noch 4307 eingeschriebene Mitglieder, die sich auf 157 Ortsgruppen verteilten.

Neben den älteren Mitgliedern, die schon vor 1914 anarchistisch oder syndikalistisch organisiert waren und durch ihre ganze Persönlichkeit die nicht eingelösten Ziele der Bewegung verkörperten, handelte es sich dabei meist um Menschen, die Anfang der zwanziger Jahre zur FAUD gestoßen waren, ihre politische Sozialisation in der Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands (SAJD) erhalten hatten und aus ideellen Gründen bei der Organisation verblieben. Die quasi familial orientierte Gruppenformation der Anarchosyndikalisten verfügte mithin über eine hohe Integrationskraft: zwischengenerationell und familial abgesicherte Milieukerne stellten das personelle Gerüst, garantierten Kontinuität, waren Rekrutierungsfeld. Dieser Befund trifft auch auf die Wuppertaler FAUD- und SAJD-Gruppe zu, die zum Ende der zwanziger Jahre noch ca. 50 Mitglieder umfaßte.

Gustav (Jahrgang 1912) und Fritz (Jahrgang 1910) Krüschet wuchsen zusammen mit ihrer Schwester in einer Obdachlosensiedlung in Elberfeld auf. Ihr Vater war schon früh verstorben, und die Mutter, eine resolute Frau, mußte allein für den Lebensunterhalt der Familie sorgen. Sie entstammte einem katholischen Milieu, war aber dennoch Mitglied der Gewerkschaft, schickte ihre Kinder in die freie weltliche Schule und förderte deren Bildungsbedürfnisse, soweit dies finanziell möglich war. Über Bekannte der Mutter fanden die Brüder Zugang zur anarchosyndikalistisch dominierten Gemeinschaft proletarischer Freidenker. Dort lernten sie dann Mitglieder der SAJD kennen, deren Gruppe in den Jahren 1929 bis 1933 zum Mittelpunkt ihres Lebens wurde.

Die SAJD des Wuppertals umfaßte 1930 etwa zehn Jungarbeiter und fünf Lehrlinge im Alter von 16 bis 22 Jahren. Es gab nur drei Mädchen in der Gruppe, von denen eines nach kurzer Zeit wieder austrat. Die Mädchen waren auszubildende Näherinnen bzw. Schneiderinnen. Darunter war auch Gustavs spätere Ehefrau Hedwig ("Dat Brett"), eine geborene Felsch, die über ihren älteren Bruder Willi, ein Mitglied der Vorläuferorganisation Freie Jugend Morgenröte, zur Gruppe kam. Die Jungen waren ein Dreher- und ein Anstreicherlehrling, außerdem ungelernte und Gelegenheitsarbeiter, Tapetendrucker, Anstreicher, Bauarbeiter und Werkzeugmacher.

Die meisten wurden im Verlauf der Krise ab 1930 arbeitslos. Es gelang der Gruppe nie, in größerem Maße fernstehende Arbeiterjugendliche anzuziehen und zu organisieren. Sie blieb ein verschworener Haufen mit starkem Zusammenhalt nach innen und klarer Abgrenzung nach außen. Außer den Brüdern Helmut und Hans Kirschey sowie Hans Saure, die sich 1931 vom Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) getrennt hatten, gewann die SAJD keine festen Neumitglieder.

Besonders die Mädchen hatten einen schweren Stand in der Gruppe. "Den meisten Mädchen war das ein zu trockener Diskutier- und Aktionsklub - und auch das Tanzengehen usw. war ja verpönt; außerdem hätten unsere Jungs da auch kein Geld für gehabt", berichtete Hedwig Krüschet. Ein veritables Unterscheidungsmerkmal von den übrigen Jugendorganisationen war, daß man keinen "Poussierklub wie die Sozialistische Arbeiterjugend oder die Bürgerlichen" haben wollte. Die Mädchen waren also wegen der Sache dabei und hatten ihrerseits manchmal ihre liebe Mühe, sich die Jungen "vom Leibe" zu halten.

Die Mitglieder der SAJD waren fast täglich zusammen. In Unterbarmen an der Oberbergischen Straße bauten sie in Selbsthilfe ein "Jugendheim", eine Hütte im Garten eines Genossen. Hier wurde nächtelang diskutiert und gesellig zusammengesessen. In der Gruppe herrschte ein vitales Bildungsbedürfnis: "Wir lasen, was uns in die Finger kam, Bakunin, Kropotkin, Rocker, Mühsam, Sinclair, Jack London, Dostojewski, auch das 'Kapital' und auch 'Brehms Tierleben'.

Wir wollten doch wissen, wie alles zusammenhängt." Gustav Krüschets "normaler" Tagesablauf im Jahre 1930 verlief so: "Morgens mußte ich um sechs raus [...]. Nach der Arbeit haben wir uns meistens gleich irgendwo getroffen - damals war ja immer was los: Schlägereien mit den Nazis, Diskussionen am Rathaus mit den Kakaophilosophen, Flugblätter machen oder verteilen, am Gewerkschaftshaus oder auf der Straße. Abends gingen wir immer zu den anderen Organisationen, in ihre Versammlungen, um uns da einzumischen. Oder wir waren unter uns zusammen. Ich bin damals, glaub' ich, selten vor zwölf ins Bett gekommen - und dann hab' ich oft noch bis drei gelesen."

Mit einfachen Mitteln entfalteten die Jugendlichen eine rege Öffentlichkeitsarbeit: Flugblätter, Plakate, der Versuch einer Betriebszeitung. Ein Höhepunkt war die zweimalige Aufführung des Theaterstückes "Staatsräson" von Erich Mühsam über die beiden ermordeten Anarchisten Sacco und Vanzetti vor mehr als 100 Zuschauern.

Den größten Raum in den Gruppenaktivitäten nahm aber der Kampf gegen die anschwellende nationalsozialistische Bewegung ein. Der zunehmende Straßenterror der Rollkommandos der Nationalsozialisten führte ab 1929 in einer Reihe von Städten zur Gründung bewaffneter anarchosyndikalistischer Selbstschutzgruppen, der sogenannten Schwarzen Scharen. Auch die Wuppertaler Anarchosyndikalisten bildeten eine Schwarze Schar. Sie verfügte über mehrere Revolver und auch einen Karabiner. Die Brüder Krüschet waren Mitglieder dieser Formation. Gustav berichtete: "Wir trugen schwarze Hemden, schwarze Hosen und Stiefel und einen Gürtel. Mancher hat mit Schuhwichse etwas nachgeholfen, wir hatten ja kein Geld. [...]

Mit Sprechchören und Liedern gingen wir vor unseren Demonstrationen her oder bei den anderen Demonstrationen mit. Die hatten einen Heidenrespekt vor uns - sie wußten ja nicht, wie wenige wir waren." Hans Schmitz brachte ihre Militanz auf den Begriff: "Wenn dich ein Nazi angegriffen hat, mußte man zurückschlagen. Man konnte doch nicht bis zum anderen Tag warten und dann in der Fabrik den Generalstreik fordern, so wie es die alten Genossen sagten."

Die Schwarzen Scharen verkörperten einen neuen, aktivistischen Geist der Militanz der jungen Anarchosyndikalisten. In Wuppertal war die Schwarze Schar ein kleiner, aber wichtiger Teil des proletarischen Selbstschutzes, durch den über organisatorische und ideologische Grenzen hinweg Übergriffe der SA in Versammlungen und auf den Straßen der Arbeiterviertel verhindert wurden.

Anfang März 1933 konnten sich die Brüder Krüschet der Verhaftung durch die SA nur durch den raschen Umzug in den Stadtteil Barmen entziehen. In der Marienstraße in Elberfeld waren sie bei der SA als entschiedene Antifaschisten bekannt; aus ihrer Wohnung hing oft eine schwarze Fahne. Fritz hatte zudem einen SA-Mann angezeigt, der auf Passanten geschossen hatte. In der Nacht nach ihrer Flucht verwüstete die SA ihre Wohnung und entwendete die schwarze Fahne sowie 500 Mark. Nichtsdestoweniger blieben Gustav und Hedwig, die in "freier Liebe" zusammenlebten, sowie Fritz im Kontakt zur Gruppe. Die Jugendlichen trugen mit wenigen älteren Genossen die Hauptlast des anarchosyndikalistischen Widerstandes.

Dezentrale, basisverbundene Arbeit, Selbsttätigkeit und Selbständigkeit waren eingeübte Praxis. Ihr Lebenselement bildete die proletarische Solidarität, die besonders in der materiellen und ideellen Unterstützung der Familien von Verfolgten und Inhaftierten ihren Ausdruck fand; hinzu kamen lokale, regionale und überregionale Treffen, Kurierdienste, Fluchthilfe, Sammlungen für Spanien, die Verteilung der aus dem Ausland eingeschmuggelten Literatur, die Herausgabe eigener Flugblätter, das Anbringen von Losungen usw. Das Prinzip der gegenseitigen Hilfe und proletarischen Solidarität war so selbstverständlich, daß Fritz Krüschet in seinem Prozeß 1938 arglos davon erzählte. Hedwig und Gustav versteckten auch für einige Tage Alfred Kirschey, den Leiter des KJVD in Wuppertal, bevor er durch die anarchosyndikalistische Fluchthilfe nach Holland gebracht werden konnte. Hedwig kümmerte sich darüber hinaus um die in Deutschland zurückbleibende hochschwangere Verlobte Willy Kirscheys, der ebenfalls fliehen mußte, und verschaffte ihr Arbeit, während später jüngere männliche Genossen die Betreuung des Kindes übernahmen.

Hedwig Krüschet arbeitete im Jahre 1937 als Näherin in einem Elberfelder Betrieb, der HJ-Uniformen produzierte. Ihr Mann war damals schon in Haft. Der Firmenleiter hatte die Absicht, den ca. 25 Arbeiterinnen das zugesagte Weihnachtsgeld zu streichen. "Für solche Fälle hatte ich doch genug über Anarchismus und Syndikalismus gelernt", erzählte sie, "und dann sind wir in den Bummelstreik getreten. Ich hab' allen gesagt: 'Jetzt tut mal nicht mehr schwätzen oder lange Klopausen machen; wir arbeiten jetzt mal ganz besonders korrekt - aber dreimal so langsam.'" Die Rädelsführerin wurde zum Chef zitiert, und dieser drohte ihr, sie ebenfalls, wie ihren Mann, ins Gefängnis zu schicken. Eine fristlose Kündigung scheiterte an der Solidarität der Näherinnen. Sie wurde zurückgenommen. Der Streik war im übrigen erfolgreich: das Weihnachtsgeld wurde gezahlt.

Im Dezember 1936 kam die Gestapo den Widerstandsaktivitäten auf die Spur. Innerhalb von drei Monaten wurden im Rheinland über 100 Anarchosyndikalisten verhaftet - Gustav am 6. März 1937, Fritz am 7. April 1937. Die Ermittlungen zogen sich über ein Jahr hin und wurden von der Gestapo Düsseldorf geführt, fast alle Inhaftierten wurden schwer mißhandelt. In zwei großen Prozessen im Januar und Februar 1938 verurteilte das Oberlandesgericht in Hamm insgesamt 88 Anarchosyndikalisten "wegen Vorbereitung zum Hochverrat". Von den elf verurteilten Wuppertalern waren allein neun ehemalige SAJD-Mitglieder. Gustav und Fritz Krüschet erhielten "trotz hartnäckigen Leugnens" zwei Jahre und drei Monate Zuchthaus als Strafmaß auferlegt.

Der Rest ist schnell erzählt. Gustav Krüschet stand nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus zunächst unter Gestapoaufsicht und wurde Ende 1942 in das Strafbataillon 999 eingezogen. Er war zunächst in Südfrankreich stationiert und kam von dort aus nach Albanien, wo er 1944 in Gefangenschaft geriet. Ihm war es gelungen, sein Gerichtsurteil heimlich mitzuführen. Damit konnte er sich bei der albanischen Widerstandsbewegung ausweisen.

Fritz Krüschet kam nach Ablauf seiner Zuchthausstrafe in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Im Herbst 1944 gehörte er zu den rund 770 Häftlingen, die in die SS-Sonderformation Dirlewanger gepreßt wurden. Schon beim ersten Fronteinsatz konnten etwa 500 Mann, unter ihnen Fritz, zu den sowjetischen Truppen überlaufen. Von den sowjetischen Stellen wurden sie aber - eine schmerzhafte Erfahrung für Fritz - nicht als Widerstandskämpfer, sondern als Kriegsgefangene behandelt. Bis Mitte 1947 wurden nur die ehemaligen KZ-Häftlinge entlassen, die wegen Krankheit oder Invalidität als arbeitsunfähig galten. Dazu gehörte Fritz Krüschet. Er kam schon im September 1945 nach Deutschland zurück.

Fritz wurde nun wie andere Wuppertaler Anarchosyndikalisten auch kurzfristig Mitglied der KPD. "Die besten gingen zur K[ommunistischen] P[artei] [...] trotz Zweifel u[nd] Bedenken", stellte August Benner 1946 fest. Das war freilich für alle nur eine vorübergehende Episode. Der Rahmen, der durch die Prinzipien "Freiheit und demokratischer Sozialismus" und "Niemals wieder Faschismus oder Parteidiktatur" gesteckt war, ließ keinen Raum für ein dauerndes Engagement dieser Art. "[...] wir haben gelernt, relativ freie demokratische Systeme zu schätzen und Diktaturen jeder Art auf das leidenschaftlichste zu hassen."

Von jeher literarisch-kulturell interessiert, arbeiteten die Krüschet-Brüder mit Freunden in Arbeitsgemeinschaften der Volkshochschule über Probleme des Sozialismus, außerdem interessierten sie sich für Genossenschaftswesen und kommunale Belange. Sie vertraten die Ansicht, daß ein einfaches Wiederanknüpfen an die Vorkriegstraditionen des Anarchosyndikalismus nicht möglich sei. Damit war einer Wiederbelebung der alten FAUD eine Absage erteilt. Realismus und Pragmatik, nicht Dogmatik, weder ideologische noch organisatorische, seien am Platze; gefordert wurde vielmehr praktische Mitarbeit am vorrangig materiellen Wiederaufbau, freilich begleitet durch eine grundlegende Erneuerung der sozialen und geistigen gesellschaftlichen Grundlagen.

Ein Einstiegstor und eine Heimstatt bildeten sie mit der organisatorischen und kommunikativen Plattform einer Föderation Freiheitlicher Sozialisten. Auf die politische Entwicklung in Nachkriegsdeutschland konnte diese kleine Gruppe dadurch aber keinen wirklichen Einfluß nehmen. Für die jenseits von sozialdemokratischem Reformismus und stalinistischem Kommunismus bestehende sozialrevolutionäre Strömung der Arbeiterbewegung, die sie repräsentierte, fand sich in Deutschland keine Basis mehr.

Das in der Jugendgruppe internalisierte Gefühl der Verpflichtung zur aktiven Teilnahme am öffentlichen Leben und zur Mitgestaltung des Politischen als eines vom Persönlichen untrennbaren Lebens- und Erfahrungsbereichs charakterisierte die erwachsenen Krüschets ebenso wie eine im Grunde ungeachtet aller Resignation schließlich doch noch verbleibende optimistische Grundhaltung. Das Frohe und Kindliche, das immer in ihnen war, das Grundgute und unbegrenzt Optimistische ihres Wesens waren durch Haft, Verfolgung und Tortur nicht gebrochen. Gustav und Fritz Krüschet bewahrten in ihrem Alltagsleben die Haltung eines entschiedenen Freidenkertums, einer dezidierten Ablehnung jeglichen Dogmatismus, einen freiheitlichen Erziehungsstil und eine ausgeprägte persönliche Bescheidenheit. Sie kannten keine Rollen, keine Berechnung, keine Verstellung. Ihr Idealismus war nicht Pflicht, sondern Natur.