Wir lernen nicht für die Schule. Wir lernen für Bertelsmann.

Im Jahr 2000 trafen sich einige ältere Damen und Herren in Lissabon. Sie nannten sich „der Europäische Rat von Lissabon“ und beschlossen „bis zum Jahr 2010 Europa zur wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten Wirtschaft in der Welt zu machen.“

Dieser EU-Gipfel hat weitreichende Folgen für die europäische Politik, im besonderen im Bereich der Bildung.

Die World Trade Organisation
Angefangen hatte die ganze Sache allerdings schon 6 Jahre zuvor in Marrakesch. Dort wurde am 15. April 1994 die World Trade Organsiation (WTO) gegründet. Diese ist aus einem Vertragssystem hervorgegangen, das erfolgreich zum Ziel hatte, Zölle und Handelsbeschränkungen abzubauen: dem „General Agreement of Tarifs and Trade“ (GATT). Nun wurde eine Organisation mit Sitz in Genf gegründet, die die Aufgabe haben sollte, die fortschreitende Liberalisierung des Welthandels zu gewährleisten. Das bedeutet, sie soll dafür sorgen, dass die Wirtschaft möglichst ungehindert von staatlichen oder sonstigen Maßnahmen agieren kann. Zusätzlich ist es ihre Aufgabe, weltweit die Kommerzialisierung von ehemals öffentlichen Institutionen zu voranzutreiben. Dieser Entwicklung sollen keine Grenzen gesetzt werden.


Die WTO besteht aus drei Säulen:
Gatt Das ist das Abkommen, aus welchem die WTO entstanden ist. (s.o.) Es ist vollständig in der WTO aufgegangen.

Gats Ist für die Liberalisierungen im Dienstleistungsbereich zuständig (z.B. Wasser, Bildung, Kultur, Energie,öffentlicher Verkehr...)

Trips Schutz des geistigen Eigentums (Patente z.B. auf Gene, Software, Medikamente...)


146 Staaten sind Mitglied in der WTO. Diese Länder tätigen über 90% des weltweiten Warenhandels. Das vielleicht wichtigste Element der WTO ist das Streitschlichtungsverfahren (Dispute Settlement). Dessen Aufgabe ist die Schlichtung von Streitigkeiten unter den Mitgliedsländern. In den meisten Fällen wird es von den reichen WTO-Mitgliedern in Anspruch genommen, da die ärmeren meist nicht die finanziellen Möglichkeiten besitzen, um Expertenstäbe zu finanzieren, die das juristisch Know-How haben, um dieses aufwendige Verfahren zu führen. (FR 3.9.2003) Zudem sind die sog. „Entwicklungsländer“ bei den Industrieländern hoffnungslos überschuldet und somit jederzeit erpressbar.

Für den Bereich der Bildung ist das GATS zuständig. Ziel ist es, einen weltweiten Bildungsmarkt zu schaffen, in dem private Anbieter untereinander konkurrieren. Der Wert dieses Bildungsmarktes wird von der UNESCO auf 2 Billionen $ geschätzt. Es gibt also eine Menge Geld zu verdienen. Sollten dieses Abkommen mit der jetzigen Zielrichtung konsequent fortgeführt werden, haben wir in einigen Jahren Schulen und Universitäten, die Bildungskonzernen (wie z.B. Bertelsmann) gehören und für die Bedürfnisse der Wirtschaft „produzieren“.
Die Europäische Union (EU) vertritt ihre Mitglieder in der WTO. Sie verspricht sich besondere Chancen durch das GATS, da hier das Potential (Konkurrenzfähigkeit) im Bereich der Dienstleistungen als besonders hoch eingestuft wird.


Die Europäische Union
1994 ging die EU weitreichende Verpflichtungen zum Marktzugang im Bildungsbereich ein. Mit diesen Verpflichtungen ist die EU das WTO-Mitglied, das den Bildungssektor im GATS bisher am stärksten liberalisieren will. Bisher sind lediglich 41 Mitglieder überhaupt Verpflichtungen im Bildungsbereich eingegangen. (WTO 1998b: 20. )
Die EU ist allerdings nicht nur Verpflichtungen eingegangen, sondern hat im Gegenzug auch Forderungen an die anderen WTO Mitglieder gestellt. Welche das genau sind, ist leider nicht feststellbar, da die WTO-Verhandlungen nicht öffentlich geführt werden.

Im Juli 1999 trafen sich die EU-Bildungsminister in der Nord-Italienischen Stadt Bologna, um einen „einheitlichen europäischen Hochschulraum“ zu schaffen. Das Ergebnis ist der sogennante „Bologna-Prozess“. Ein Bestandteil ist die europaweite Umstellung auf Master und Bachelor Abschlüsse, um eine Internationale Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Um diese Vergleichbarkeit zu gewährleisten, müssen an allen Universitäten in allen Fachrichtungen ähnliche Bedingungen herrschen. Die Folge könnte eine „Verschulung“ der Unis sein, indem die Studierenden die Organsiation ihres Studiums zu Gunsten von Stundenplänen abgeben müssen.

Am 31. Januar 2001 veröffentlichte die EU-Kommission für Bildung einen Bericht mit dem viel sagenden Titel „Die konkreten künftigen Ziele des Bildungssystems“. Als strategisches Ziel wird hier u.a. die „Bestmögliche Nutzung der Ressourcen“ angegeben. Zu diesem Zweck wird die Entwicklung der Potentiale öffentlich-privater Partnerschaften empfohlen. Außerdem soll die „Investition in die „Humanressource“ (Menschen) bei gerechter und effizienter Verteilung der verfügbaren Mittel steigen.“ Das hört sich ja gar nicht mal so schlecht an. Abgesehen davon, dass wir nichts weiter sind als menschliche Ressource, wird immerhin empfohlen, dass alle die Chance auf eine gute Ausbildung bekommen sollten, um die Ressource Mensch voll ausschöpfen zu können. Wer allerdings die gewünschten Ressourcen nicht zum gewünschten Zeitpunkt zur Verfügung stellen kann/will, wird gnadenlos aussortiert . „Des weiteren ist das Interesse an wissenschaftlichen und technischen Studien (z.B. Mathematik und Naturwissenschaft) zu fördern“. Abgesehen davon, dass mich bei dem Wort "Mathematik" das nackte Grauen erfasst, was zugegebenerweise mein persönliches Problem ist , wird hier auch klar, dass es in erster Linie darum geht, der Wirtschaft die Human-Ressource möglichst passgenau zur Verfügung zu stellen. In diesem ganzen Text ist von Fächern wie Gemeinschaftskunde, Kunst, Musik, Politik oder Sport nicht einmal die Rede. Dafür aber umso mehr von IT, Mathe, Fremdsprachen, Technologie und Unternehmergeist.


Um das ganze Abzurunden hier noch einmal die volle Breitseite:
„Mehr Freiheit für die Schulleiter bedeutet, dass sie andere Arten von Partnerschaften mit den Behörden eingehen können, nicht nur bilateral, sondern auch multilateral, nicht nur mit anderen Akteuren des Bildungswesens (etwa Universitäten, pädagogischen Hochschulen oder anderen Schulen), sondern auch mit privaten Einrichtungen, wie etwa Unternehmen. Die Barrieren nieder zu reißen, die derartige Partnerschaften behindern, kann ein erfolgreicher Weg sein, um die Einrichtungen des Bildungswesens in die Lage zu versetzen, sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen bestmöglich zu nutzen.“
(aus „Die konkreten Zukünftigen Ziele des Bildungssystems“)

Das „Humankapital“ soll zudem auf die Einführung von „flexiblen Arbeitsmustern“ vorbereitet werden, „die über das rein Fachliche hinausgehen“, vor allem „Anpassungsfähigkeit, Toleranz gegenüber anderen und gegenüber Autorität.“

Hinter diesen Texten und den dort formulierten Zielen und deren Umsetzung steht eine Lobby, die sowohl aus der Politik als der Wirtschaft kommt. Einer der führenden Verfechter der Bildungsliberalisierung ist Elmar Brok. Brok sitzt für die CDU im Europaparlament und ist nebenbei (?) Vize-Präsident von Media Development der Bertelsmann AG. Die Bertelsmann AG betreibt wiederum, über ihre Stiftung, das zusammen mit der deutschen Hochschulrektoren Konferenz (HRK) gegründete „Centrum für Hochschulentwicklung“ (CHE), die Kommerzialisierung im deutschen Bildungssystem voran. Sollten die Konzepte wie geplant umgesetzt werden, würde dies in erster Linie Konzernen wie der Bertelsmann AG und Vivendi Universal nützen. Diese hätten hervorragende Chancen, den Markt zu dominieren.


D
„Agieren im globalen Wettbewerb fordert bestimmte Rahmenbedingungen. Insbesonders Hochschulen können sich auf einem auf freien Wettbewerb basierenden „Bildungsmarkt“ nur etablieren und behaupten, wenn sie schnell und flexibel auf internationale Nachfragen reagieren und Möglichkeiten des Marktes effizient nutzen können. Insofern bedarf es weiterer Anstrengungen, den Gestaltungsspielraum der Hochschulen zu erweitern.“
(Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung [BLK] 2000)


Am 30. Oktober 2000 startete das BLK zusammen mit Verbänden aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kommunen die Initative „Internationales Marketing für den Bildungs- und Forschungstandort Deutschland“, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert wird. Deren Aufgabe ist die Ausarbeitung von „Strukturreformen“, die den öffentlichen Bildungsanbietern mehr „Gestaltungsspielraum“ durch zusätzliche Finanzquellen geben sollen. Dies soll durch Kooperation mit Wirtschaftsunternehmen, die Einrichtung kostenpflichtiger Studiengänge, Weiterbildungsangebote, Studiengebührenmodelle oder die Möglichkeit, privatwirtschaftliche Tochterunternehmen zu gründen, ermöglicht werden.

Ein Projekt dieser Initative ist das Internetportal „Campus Germany“. Hiermit soll versucht werden, Studierende, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an deutsche Universitäten zu locken, um dadurch die Wettbewerbsfähigkeit des „Standort Deutschland“ im Internationalen Bildungswettbewerb zu steigern. Die Konkurrenzlogik ist das einzige Argument für politische Entwicklung im Bildungsbereich.

Einige Bildunganbieter gehen mit gutem Beispiel voran, so ist z.B. die TU München bereits in das Export Geschäft eingestiegen. Sie betreibt das „German Institute of Science and Technology“ in Singapur. Dieses wird durch Studiengebühren finanziert, die zwischen 15.000 und 25.000 Euro pro Jahr betragen. (BLK 2002b:9.)

Gleichzeitig wird die Einführung der Bachelor & Master Studiengänge weiter voran getrieben.
Im Bachelor Studiengang wird das Studium auf das Wesentliche reduziert. Was mit „das Wesentliche“ gemeint ist kann, Mensch sich denken (s.o.). Dadurch soll die Studienzeit verkürzt werden, um den Studenten schneller die Möglichkeit zu geben, sich auf dem freien Markt der Konkurrenz zu stellen. Die bisherige Erfahrung in Deutschland zeigt allerdings, dass Bachelor-Absolventen keineswegs bessere Chancen auf einen Job haben, da vor allem internationale Arbeitgeber Studenten mit einem Master-Abschluss bevorzugen. Für den Master-Studiengang ist mit der Einführung von Studiengebühren zu rechnen, da dieser nach geltendem Recht als Zweitstudium gewertet werden kann.

Mensch kann sagen, dass die gesamte Entwicklung im globalen Bildungsbereich wegführt von einem Bildungsideal, das immerhin noch vorgab, zum Ziel zu haben, den umfassend gebildeten und aufgeklärten Menschen zu erzeugen. Stattdessen wird ein System für Ausbildung und Qualifikation erzeugt, das dazu da, ist die Wirtschaft effektiv zu bedienen.
Schon heute sind Schulen und vor allem Universitäten stark von der Privatwirtschaft abhängig. Diese Abhängigkeit wird sich im Zuge dieser sogenannten „Reformen“ um ein vielfaches verstärken.

Was bedeutet das für uns konkret?
Das kann Mensch momentan z.B. am Hessenkolleg Wetzlar (2. Bildungsweg) beobachten: Jedes Jahr werden die Aufnahmebedingungen härter, das gleiche gilt für die Prüfungsvoraussetzungen, Vergleichsarbeiten werden geschrieben, die Möglichkeiten für Lehrer und Schüler, den Unterricht selbst zu gestalten, werden dadurch zunehmend eingeengt. Schon bei wenigen Fehlstunden wird das Bafög gekürzt.Das Hessenkolleg wird konkurrenzfähig gemacht. Wer nicht mithalten kann, muss selber sehen wo er/sie bleibt.
Profitieren werden die Menschen, Institutionen, Konzerne und Staaten, die stark und rücksichtslos genug sind, um sich gegenüber ihren Konkurrenten durchzusetzen. Wir haben es hier schlichtweg mit einer modernisierten und perfektionierten Variante des Sozial-Darwinismus zu tun.

Nun könnte Mensch natürlich auch meinen, dass vieles von dem, was hier vorgeschlagen wird, sich gar nicht so schlecht anhört. Schließlich belebt Konkurrenz das Geschäft, und davon könnten doch alle profitieren.
Dazu gibt es schon praktische Erfahrungen. So wurde bereits in den 1980er Jahren das Bildungssystem in England teil-privatisiert. Dort können Eltern „entscheiden“, ob sie ihre Kinder auf staatliche oder private Schulen schicken. Diese „Entscheidung“ ist allerdings ausschließlich eine Frage des Geldbeutels. So sammeln sich in den kostenfreien, staatlichen Schulen die Kinder aus sozial schwachen Famillien, deren Eltern sich mit 2-3 Jobs durchs Leben schlagen müssen.
Die Lehrer werden dort leistungsabhängig entlohnt. Dadurch sind sie einem so starken Druck ausgesetzt, dass 40% innerhalb der ersten drei Dienstjahre den Job wechseln. Dies führt wiederum zu einem Lehrermangel an den staatlichen Schulen, zu Klassenzusammenlegungen und Verkürzung der Unterrichtszeit. Firmen werben dort in Schulbüchern und durch Sachspenden. So stattet z.B Nike Schulsportvereine aus.
Ein anderes Beispiel für die fortgeschrittene Liberalisierung des Bildungssystems sind die U.S.A. Dort sind die Zustände noch extremer als in England. Ein Unternehmen namens „Edison“ übernahm z.B. 133 öffentliche Schulen, sie versprachen die Effizienz zu steigern, die Kosten zu senken und die Leistungen zu verbessern. Das Gegenteil war der Fall. Die Kosten stiegen. Die Leistungen der Schüler nahmen ab. Vielen LehrerInnen und Personal wurde gekündigt, um Kosten zu sparen. Bis zu 50% der LehrerInnen kündigten allerdings auch selber, da sich die Zustände dermaßen verschlechtert hatten. Nachdem Bilanzmanipulationen aufflogen, ging der Konzern in den Konkurs.
Ein anderes Beispiel ist die Universität von Oregon. Diese wird von Nike gesponsort. Dort ist es den Studierenden verboten, sich mit den Arbeitsbedingungen bei Nike auseinanderzusetzen.


Un nu?
Wir sehen uns momentan mit einer Entwicklung konfrontiert, deren Auswirkungen langfristig fundamentale Folgen für unser aller Leben haben wird. Die hier für den Bildungspart aufgezeigte Entwicklung verläuft in nahezu allen anderen Bereichen ähnlich. Es gibt z.B. Angebote von RWE an viele Kommunen in Hessen, ihr Grundwasser dem Konzern zur kommerziellen Nutzung zu überlassen. Wer weiß, wie desaströs die finanzielle Situation in vielen Kommunen ist, kann sich vorstellen, dass dieses Angebot verlockend ist. Ähnliches gilt für den öffentlichen Verkehr, das Gesundheitssystem, das Sozialsystem, Kultur etc. Ebenso für Patente z.B. auf Gene. So sollten Bauern in Nord-Indien Abgaben an einen U.S.-Amerikanischen Konzern bezahlen, weil dieser das Patent auf das Basmati-Reis-Gen erworben hatte, welchen die Bauern dort seit Jahrtausenden anbauen. Menschliche Gene sind selbstverständlich auch nicht ausgenommen. Kurz um: Es soll einfach alles kommerzialisiert werden. Der Kapitalismus ist gezwungen, die Verwertung permanent zu erhöhen. Da das System ohne Wachstum kollabiert. Es ist zu befürchten, dass am Ende eine totalitäres Wirtschaftssystem entsteht, das den Anspruch hat und durchsetzt, alles nach seinen auf Verwertung ausgerichteten Prinzipien zu kontrollieren. Der Mensch wäre endgültig zu Maschinen degradiert.
Dieses worst-case-Szenario kommt allerdings nicht zwangsläufig. Es liegt an uns, der fortschreitenden Privatisierung, der Diktatur des Geldes, eine fortschreitende Demokratisierung von unten entgegen zu setzen. Dies würde allerdings voraussetzen, dass sich erstmal einige, langfristig viele Menschen ihrer Situation bewusst werden und sich entschliessen vom Objekt (Behandelter) zum Subjekt (Handelnde) zu werden. Meiner Meinung nach kann nur dies eine realistische Alternative sein. Schliesslich ist die Geschichte der Menschheit voll mit „grossen“ Führern, Politikern und Ideologien, die den Menschen alles versprachen und nichts gaben.

Piotr Snider