Für den Standort studieren wir gerne!?

Folgendes Flugblatt wurde von Mitgliedern des Bildungssyndikats Leipzigs auf der Vollversammlung an der Uni Leipzig am 10.12.03 sowie bei der bundesweiten Demonstration am 13.12.03 verteilt. Seitens vieler Protestierender wird mit dem Argument an den Staat appelliert, das Bildungswesen besser zu finanzieren, damit sie ihm als gut ausgebildete Elite zur Verfügung stehen können. Grund genug also, sich einmal kritisch damit zu befassen, was es mit dem Staat, seinem Bildungswesen und den Studis auf sich hat ...

Für den Standort studieren wir gerne!?
Alle Jahre wieder regen sich auch in der BRD StudentInnenproteste.
„Zehntausende Studierende in Deutschland zeigen derzeit, was sie vom
immer weiter gehenden Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung für
Bildung, Wissenschaft und Kultur halten.“
Denn „Bildung ist eine
Aufgabe des Staates und wenn die zuständigen PolitikerInnen diese
nicht machen wollen, dann heißt das nachsitzen – aber nicht auf der
Regierungsbank.“
Statt „an die internationale Elite anzuschließen [...,] entfernt sich Deutschland davon und droht im Bildungsbereich
drittklassig zu werden“. „Studierende sind, in einer Zeit, in der
Bildung und Ausbildung als die großen Aufgaben formuliert werden, die
Melkkühe der LandesfürstInnen“
und „diese Verantwortungslosigkeit auf
Länderebene wird auf Bundesebene widergespiegelt“.
Wie gut, dass
PolitikerInnen studiprotestlerische Politikberatung haben, die weiß,
was zu tun ist: „Wenn wir uns für mehr Ressourcen in Bildung einsetzen, dann handeln wir im gesamtgesellschaftlichen Interesse.
Ohne Bildung keine Zukunft.“
(Alle Zitate in diesem Abschnitt wurden entweder dem Aufruf zur Demonstration „Ihr nehmt uns unsere Zukunft“
[www.fzs-online.org/files/372]
oder der „Sturaktiv Extra“ [zu finden auf www.stura.uni-leipzig.de] entnommen.)

Der Staat und sein Bildungswesen
Nun soll hier nicht bestritten werden, dass Studiengebühren, Mittelkürzungen sowie der aktuelle Hochschulumbau für die davon Betroffenen alles andere als angenehm sind und es daher allen Grund gibt, sich dagegen zu wehren. Sich zu wehren bspw. gegen die in Sachsen projektierte Verwaltungsgebühr von 100 € [1], zusätzlich zum Semesterbeitrag (66 €). Sich dermaßen affirmativ auf den Staat, diese Gesellschaft, das Bildungswesen und die eigene Rolle als StudentIn zu beziehen, ist aber verkehrt. So müsste überlegt werden, was denn die Funktionen jenes "famosen" Bildungssystems sind, dass da gegen Kürzungen verteidigt werden soll und warum der Staat es überhaupt eingerichtet hat. Was die Hochschulen betrifft, ist sicher ein Punkt, dass an ihnen die für den Fortschritt nötige naturwissenschaftliche Grundlagenforschung betrieben wird. Die kommt letztlich kapitalistischen Unternehmen zu Gute, die damit z.B. ein neues Produkt
oder eine bessere Maschinerie entwickelt, um Kosten zu sparen, indem ein Teil der ArbeiterInnen intensiver arbeiten muss und der andere auf die Straße gesetzt wird, kann aber meist nicht von den Unternehmen geleistet werden, weil sie für ihren Erfolg auf möglichst kostengünstiges und schnell verwertbares Wissen angewiesen sind.

Weiteres Produkt der Hochschulen sind Kenntnisse, die der Staat für eine Verbesserung seiner Waffentechnik nutzen kann. Und die Geistes-
und Sozialwissenschaften taugen immerhin dafür, Rechtfertigungen für Staat und Kapital auszuarbeiten und eine Politikberatung zu leisten.
Wo droht dem Staat von innen und außen Gefahr, wie soll er darauf
reagieren ? etc. Um derlei Nettigkeiten geht es, wenn von der
Bedeutung der Wissenschaft für den Standort Deutschland die Rede ist.

(K)eine Zukunft als Elite...
Außerdem fällt auf, dass es in diesem Bildungswesen keineswegs darum
geht, dass alle sich entsprechend ihrer Interessen bilden können.
Vielmehr werden die SchülerInnen einem Lehrplan unterworfen, an dem sie sich in Konkurrenz zueinander bewähren müssen. Wer in den Tests die erforderten Leistungen nicht erbringt, bekommt das Thema nicht etwa noch einmal erklärt, sondern wird – wenn das häufiger vorkommt – von weiterer Bildung ausgeschlossen ... und muss sich dann um einen der niedrig qualifizierten Jobs balgen. Wer hingegen auf Grund der erbrachten Leistungen als fähig und anpassungsbereit genug gelten kann, bekommt die Berechtigung, sich an der Hochschule – wieder in Konkurrenz – mit Wissen und v.a. formalen Qualifikationen zu versorgen. Die sind normalerweise Voraussetzung für einen weniger schlecht bezahlten Job oder gar Elitepositionen. Eine wesentliche Leistung des Bildungswesens ist, neben der Selektion selbst, auch ihre allgemeine Anerkennung. ‚Schließlich hatten ja alle die gleichen Chancen’. Wer also frühzeitig scheitert, darf sich einreden, dass sie/er eben eher praktisch begabt und der ‚intellektuelle Kram’ ohnehin nichts für sie/ihn ist. Wer es hingegen bis zu Studium schafft, sollte sich spätestens dort das Bewusstsein zulegen, für die höheren Positionen in dieser Gesellschaft bestimmt zu sein. Dumm nur, wenn trotzdem ein ‚Schicksal’ als arbeitloseR AkademikerIn droht. Wer aber bis dahin auch schon alles mitgemacht hat, kann auf ganz abstruse Ideen kommen: ‚auf Grund der Unterfinanzierung der Hochschulen habe man im Studium nicht genügend Qualifikationen mitgegeben bekommen’.

Resultat solcher Verwirrung ist ein Demonstrationsmotto wie: „Ihr
nehmt uns unsere Zukunft“.
Unklar bleibt, wieso die Wirtschaft
plötzlich mehr Bedarf an AkademikerInnen haben sollte, nur weil diese
in nicht-überfüllten Seminaren gesessen haben. Wichtiger wäre es aber
ohnehin, zu klären, warum man sich überhaupt auf die Konkurrenz um
schmähliche Privilegien noch einlässt. Und zwar zu einer Zeit, da die
Produktivkraftentwicklung doch längst einen Stand erreicht hat, der ein schönes Leben für alle – inklusive dem Wissenserwerb nach eigenen Interessen – ermöglichen kann.
Oder anders: Wir beschweren uns nicht ausgerechnet bei den professionellen VerwalterInnen des Standorts, dass sie ihre Aufgabe nicht gut genug erledigen würden! Wir erklären uns nicht zu brauchbarem Menschenmaterial für den Standort – weder als StudentIn oder JugendlicheR, noch als LohnabhängigeR oder ErwerbsloseR! Vielmehr gilt es, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. (Marx)

sy.bi.le

Bildungssyndikat Leipzig
sy.bi.le@gmx.de

[1] Nachträgliche Anmerkung: Zumindest dieser Plan wurde mittlerweile vom Sächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur (SMWK) als Fälschung zurückgewiesen.