Besetzte Fahrradfabrik - Für die Linke nur eine Projektionsfläche ihrer Wunschträume?

Neuester Stand (3.9.2007 - Quelle: Labournet)

Die ArbeiterInnen der besetzten Fahrradfabrik fahren am Donnerstag, dem 6. September mit zwei Bussen nach Frankfurt. Um elf Uhr wollen sie vom Hauptbahnhof in einer Demonstration zur Deutschland-Zentrale der "Heuschrecke" Lone-Star ziehen.

Sie halten ihre Fabrik in der neunten Woche besetzt. Vor einigen Tagen hatten sie erfahren, daß sie nicht von September an Insolvenzausfallgeld erhalten sondern sich arbeitslos melden müssen. Eine genaue Auskunft konnte ihnen niemand geben.

Es habe Schwierigkeiten beim Insolvenzantrag gegeben. Die Pflicht, sich arbeitslos zu melden, hat ihre Stimmung niedergeschlagen. Trotzdem und gerade deswegen machen sie sich auf den Weg nach Frankfurt.

Einige vermuten, daß Absicht im Spiele ist: Bei der Agentur für Arbeit sollten einige vermittelt, ihre Geschlossenheit zerschlagen werden nach dem Prinzip teile und herrsche. Ihre Absicht aber war, mittels des Insolvenzausfallgeldes, den Gehältern für die Kündigungsfrist und den Transfermaßnahmen zusammenzubleiben, bis ein neuer Investor gefunden ist. Sie sind dabei, Transparente zu malen...

Sie sind neugierig auf Frankfurt. Die IGM hat die Demonstration angemeldet und versprochen, in Frankfurt für Unterstützung zu sorgen.

Insolvenz angemeldet - Besetzung geht weiter!

Nach viereinhalb Wochen Besetzung der Fahrradfabrik Bike Systems in Nordhausen (Thüringen) hatte der Geschäftsführer Frederick P. Müller am Freitag, dem 10. August beim Amtsgericht Mühlhausen Insolvenz angemeldet. Der Betriebsrat erklärte dazu in einer Presssemitteilung: "An den Zielen der Belegschaft der Bike-Systems ändert sich hierdurch nichts. Die Belegschaft hält an ihrer Forderung, Transfermaßnahmen mit dem Ziel, eine Möglichkeit der Weiterbeschäftigung zu finden, fest". Das Werk bleibt also weiter besetzt. "Falls wir die Besetzung jetzt aufgeben würden, wären unsere Ansprüche in Gefahr. Wir machen weiter, bis alles in trockenen Tüchern ist", so ein Kollege. Sie erhoffen sich Klarheit darüber, wieviel Geld rausgezogen und wohin geflossen ist.

Hatte sich dieser Schritt schon angedeutet, als am Anfang der Woche Thüringens Wirtschaftsstaatsekretär Christian Juckenack und Nordhausens Landrat Joachim Claus (CDU) die Besetzerinnen besuchten? "Der Staatssekretär sieht Einigungsmöglichkeiten. Die Differenzen zwischen beiden Seiten seien gar nicht so groß... Denn es bedürfe nur eines `kleinen Entgegenkommens´, um den Konflikt zu lösen. Weiter verfolgt werde die Gründung einer Transfergesellschaft, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Dafür lassen sich die Förderungsmöglichkeiten der Arbeitsagentur nutzen. Der Wirtschaftsstaatsekretär sieht gute Chancen, daß die Beschäftigten von Bike Systems nach einer Qualifizierung bei Unternehmen in und um Nordhausen Beschäftigung finden". So die Thüringer Allgemeine vom 7.8.07.

Sieht ein Lösungsversuch also so aus: Lone Star zieht sich nach Millionensubventionen in den letzten Jahren an Bike Systems jetzt raus und der Staat springt ein mit Mitteln der Bundesagentur für Arbeit für eine Transfergesellschaft und Konkursausfallgeld? Und ansonsten wird auf das Prinzip Hoffnung verwiesen, daß sich schon Arbeitsplätze in der Region finden würden! In Nordhausen gibt es 7.500 Arbeitslose bei 43.000 Einwohnern!

Große Sympathie aus der Region und viele Ratschläge von der Linken

Nachdem am 10. Juli die Geschäftsführung die Fahrradproduktion einstellen ließ und die Belegschaft daraufhin den Betrieb besetzte, schlug ihnen in der Region eine Welle von Sympathie und Unterstützung entgegen. Durch Besuche von Linken und Gewerkschafttern aus Köln, Hamburg, Salzgitter und Berlin und deren Berichten in kleinen linken Medien (Junge Welt, labournet, indymedia) wurde die Besetzung in linken Kreisen bekannt.

Außer Solidaritätsschreiben bekamen sie viele gute Ratschläge:

- Lone Star solle enteignet werden
- der Betrieb sollte verstaatlicht werden
- sie sollten einen Mindestlohn und ein angemessenes Grundeinkommen fordern
- der beliebteste Vorschlag war: produziert weiter!
- die Grünen waren am Konkretesten: sie empfahlen die Produktion von ökologischen Fahrrädern, d.h. solargetrieben

In der dritten Besetzungswoche fuhr ich nach Nordhausen, um die BesetzerInnen kennenzulernen und die Situation dort besser einzuschätzen. Ich muß zugeben: Nachdem ich von der Besetzung hörte, fiel auch mir der Kampf bei der Uhrenfabrik LIP 1973 ein und das anschauliche Buch einer Besetzerin, Monique Piton, die die acht Monate Kampf und Weiterproduktion beschreibt. Es heißt: Anders leben. Ich suchte es heraus und fuhr per Bahn los. Unterwegs stellte ich mir vor: Wenn die NordhausenerInnen die Fabrik schon besetzt haben, können sie doch gleich weiterproduzieren! Die Besetzung würde dann zu einem Kristallisationspunkt der GewerkschafterInnen/Linken werden! Wie damals, als über 100.000 aus Solidarität aus ganz Frankreich wegen LIP nach Besancon kamen und acht Monate lang den Kampf unterstützten. Und dann würde die Linke versuchen, Kapital zu organisieren, später dann helfen beim Vertrieb der Fahrräder. (Fahrräder sind heute doch mindestens so gut zu verkaufen wie damals Uhren!). Im Geiste orderte ich schon ein Herrenrad (obwohl ich schon drei habe) und ein Kinderrad für meinen Enkel (10 Monate).

FabrikbesetzerInnen in Nordhausen: Wir haben nichts zu verlieren!

Wer nach Nordhausen/Thüringen mit der Bahn fährt, um die BesetzterInnen der Fahrradfabrik Bike Systems zu besuchen, braucht am Bahnhof keinen Passanten nach dem Weg zur Fahrradfabrik zu fragen - obwohl jeder den Weg weiß - der Besucher braucht nur seinen Ohren zu trauen. Er geht dorthin, wo ein lautes und permanentes Gehupe herkommt. Vor der Fabrik sieht man, zumindest bei gutem Wetter, ca. 20 Frauen und Männer in einer Reihe vor dem Werkzaun sitzen, einige haben rote Schirmmützen der IG Metall auf, alle haben Trillerpfeifen zur Hand. Fast jedes vorbeifahrende Auto hupt und alle BesetzerInnen heben als Antwort eine Hand mit hochgestrecktem Daumen und trillern nachhaltig. Ein hoher Lärmpegel an der vielbefahrenen B 80, vom Hellwerden bis zum Dunkelwerden. Eine Kollegin hatte am ersten Besetzungstag, Dienstag, dem 10. Juli, die Idee, ein Schild zu malen: Bitte hupen. Das Schild braucht niemand mehr hochzuhalten!

Es sind 135 Beschäftigte und 160 LeiharbeiterInnen, die hier bis Dienstag Fahrräder gebaut haben, zuletzt 9,5 Stunden am Tag, auch samstags. Auch nachdem sie erfahren hatten, daß das Werk geschlossen werden soll, montieren sie pflichtbewußt bis zum 10.7. weiter, bis zum letzten Auftrag. Für Juli haben sie ihren Lohn noch erhalten. Am Dienstag um 9:30 Uhr ist dann Betriebsversammlung. Am Tag vorher hatten sie erfahren, daß man sie so schnell und so billig wie möglich loswerden will. Bike Systems gehörte zu DDR-Zeiten zum VEB IFA Motorenwerk. Mitte der 80er Jahre erhielt IFA die Regierungsauflage, auch Konsumgüter herzustellen. Von da an wurden in Nordhausen auch Fahrräder gebaut.

Nordhausen ist jetzt eine Kreisstadt mit noch 43.000 Einwohnern. Seit der "Wende" hat die Belegschaft mehrere Besitzer erlebt und erlitten, auch ein abgewendetes Insolvenzverfahren. Seit Dezember 2005 gehört Bike Systems dem Finanzinvestor Lone Star. Zu Lone Star gehörte auch Bike Systems in Neukirch/Sachsen. Im Dezember 2006 wurde das Werk dort geschlossen, mit minimalen Abfindungen- die KollegInnen wehrten sich nicht. Der Finanzinvestor ist jetzt auch zu 25 Prozent an dem bisherigen Konkurrenten MIFA (Mitteldeutsche Fahrradwerke Sangerhausen) beteiligt. Diese 25 Prozent stammen aus dem Auftragsbestand bei Bike System in Nordhausen. Sie waren von da an nur noch Zulieferer für die MIFA.

Früher waren die VEB MIFA Fahrradwerke Sangerhausen die größte Fahrradfabrik in der DDR. Fast alle Teile wurden wie in Nordhausen selbst hergestellt. Heute kommen die meisten Teile vorgefertigt aus Ostasien, meistens aus China. 2004 wurden dort 737.000 Fahrräder produziert von 500 MitarbeiterInnen. Einen Betriebsrat gibt es dort nicht. Es werden untertarifliche Löhne gezahlt (laut Wikepedia).

Lone Star als Gespenst über der Fabrik

In ihre schwierige Lage waren die NordhauserInnen gekommen, nachdem Lone Star alle Aufträge und alle Materialvorräte an den bisherigen Wettbewerber MIFA in Sangerhausen weitergegeben hatte, um sich dort einzukaufen. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden täglich bis zu 2000 Fahrräder bei Bike Systems produziert. Heute schwebt Lone Star nur noch als Gespenst über dem Fabrikgelände. Es materialisiert sich nur in Person von Frederick P. Müller, dem Geschäftsführer, der in einem roten Backsteinbau in der Ecke des riesigen Geländes residiert. Es materialisierte sich weiterhin in Form der Lohnzahlungen für Juli und August. Aber das Gelände selbst und alle Anlagen gehören Herrn Biria, dem Vorbesitzer. Lone Star hatte nur die Aufträge und die Belegschaft und den Firmennahmen gekauft. In seiner Gänze materialisiert sich das Gespenst in Dallas, Texas und auch in Frankfurt/Main. Dort agieren eine handvoll Lone-Star Manager und mehr als 100 Abwickler.

Spontaner Entschluß zur Besetzung

Am Dienstag, auf der Betriebsversammlung beschließt die Belegschaft spontan, die Fabrik zu besetzen. "Wir haben keine richtige Erklärung wie das kam, es entstand mitten in der Belegschaft". Die von Lone Star angebotene Summe hätte nicht mal ausgereicht, die Löhne für die Zeit des Kündigungsschutzes (ein bis sieben Monate, je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit) auszuzahlen. (Thüringer Allgemeine vom 11.7.). Ein interessanter Vorgang: Die BesetzerInnen einigten sich auf einen durchschnittlichen Kündigungsschutz von viereinhalb Monaten. Ist es ArbeiterInnen-Solidarität? Eine kollektive Mentalität rübergerettet aus DDR-Zeiten? Jedenfalls ist es rechtlich möglich, was ich nicht wußte.

"Mit einem Appel und einem Ei" wie in Neukirch wollen sie sich jedenfalls nicht abspeisen lassen. "Als die letzten sich noch in die Listen eintrugen, haben die ersten schon unten Transparente gemalt". Es sind viele neue Plakate und Transparente dazu gekommen: Immer wieder taucht das Wort und das Symbol Heuschrecke auf.

Jemand hat eine Heuschrecke gebastelt und am Zaun aufgehängt. Am Schwarzen Brett, auf dem Weg zur Kantine hängt ein Plakat: Wir spenden Blut bevor uns Lone Star ganz aussaugt. (Dieser Spruch wird später in eine reale Blutspendeaktion umgesetzt!).

Auf die Frage, wer die Idee zur Besetzung hatte, kommt jedesmal die Antwort: "Die Belegschaft". Ich frage weiter, warum in Neukirch nichts passierte, hier aber besetzt wurde. "Wir haben nichts zu verlieren. Wir hatten immer ein gutes Betriebsklima, wie eine Familie. Und wir haben einen guten Betriebsrat". Das mit dem guten Betriebsklima glaube ich sofort: alle sind entspannt und freundlich, die ankommenden KollegInnen werden begrüßt, oft in den Arm genommen. "Und jetzt ist es mit dem Betriebsklima noch viel besser geworden", meint eine Kollegin. Sie meint nach der Besetzung.

Nur selbstgemachte Transparente und Parolen!

Ich frage einen Kollegen mit einer roten IGM-Schirmmütze, ob er Gewerkschaftsmitglied sei. "Ach wo, ich trage die Mütze nur wegen der Sonne, die blendet vormittags so, die Mützen wurden hier massenhaft verteilt". Ob denn viele Kollegen Gewerkschaftsmitglied seien, will ich wissen. "Außer dem Betriebsrat kaum welche". Dennoch ist ein Nordhauser Gewerkschaftssekretär oft vor Ort und unterstützt den Kampf. Bei einer Frage nach dem Lohn sind die KollegInnen zurückhaltend: "Wir durften über den Lohn nicht reden, das war ein Kündigungsgrund, wurde uns gesagt". Dann sagt der Kollege doch: "Wir verdienen etwa 1 000 Euro netto, Urlaubs- und Weihnachtsgeld wurde uns ja schon gestrichen".

Es gibt keine vorfabrizierten IGM-Parolen sondern ausschließlich eigengefertigte Transparente und Plakate, die der Lage Ausdruck geben:

- "Vorsicht! Texanische Heuschrecke frisst sich durch Deutschland"
- "Gestern Neukirch, heute Nordhausen, - und morgen (?) die Mifa"
- "Wir wollen arbeiten und lassen uns von der Heuschrecke Lone Star nicht auffressen"
- "Gestorben 30.06.07. Danke Lone Star!"
- "Abfallprodukt der US Lone Star: Ein Mensch" (raufgeschrieben auf einen großen schwarzen Müllsack).

Wie in der Produktion teilen die Schichtleiter die Besetzungsschichten ein, ein Zeichen, daß sie voll mitziehen. Der frühere Produktionsleiter(!) ist für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Nur der Chef von Bike Systems, Frederick P. Müller, genannt Müller III, steht auf der Gegenseite. Nachdem er Neukirch erfolgreich im Sinne von Lone Star abgewickelt hatte, wurde der frühere Unternehmensberater, ein Wessi, Chef in Nordhausen. Als die KollegInnen den Betrieb übernahmen, wahrte er nicht mehr die Contenance und geriet ganz außer sich, er riß ein Plakat herunter, fotographierte KollegInnen. Er war wohl deshalb ganz außer sich, weil er die Abwicklung bei Bike System Neukirch ohne Widerstand der Belegschaft über die Bühne gebracht hatte. Er versuchte, die Besetzung gerichtlich verbieten zu lassen. Der Betriebsrat erklärte, daß eine ständige Betriebsversammlung stattfände, die bis jetzt läuft.

Ständig was los!

Nachts stehen zehn Besetzer Posten, Frauen nicht mehr nachts. Tagsüber sind oft 30-40 BesetzerInnen da, trinken Kaffee, Selter, Bier ist verboten. Ständig ist was los, ständig muß organisiert werden. Am 17. Besetzungstag war ein Chor der Uni Göttingen, bestehend aus verdi-KollegInnen da. Sie sangen moderne und Arbeiterlieder. Sie hatten extra ein Lied gedichtet. Kurz vorher hatte die Belegschaft ein Kinderfest organisiert, viele Firmen der Stadt hatten es materiell unterstützt. Der Ertrag des Festes, 400 Euro, wurde für ein geplantes Kinderhospiz gestiftet. "Wir haben soviel Freundlichkeit und Sympathie aus der Stadt bekommen, das wollten wir zurückgeben". Dieser Satz eines Kollegen klingt ungespreizt und echt.

Das Bläserquartett eines hiesigen Orchesters war dagewesen und hatte ein kleines Konzert gegeben. Für die nächste Woche ist eine weitere Fahrradtour durch Nordhausen und Umgebung geplant.

Am 23. Besetzungstag will attac aus Leipzig kommen und einen Film über eine Fabrikbesetzung in Argentinien zeigen. Am 25. Besetzungstag dann Kollegen und Unterstützer von Bosch-Siemens aus Berlin, die einen Film über ihren Streik zeigen.

Am kommenden Freitag gehen die KollegInnen zum Blutspenden nach dem Motto: "Wir geben unseren letzten Tropfen, bevor uns Lone Star ganz aussaugt".

Am Wochenende ist Stadtfest in Nordhausen. Die BesetzerInnen machen eine Art TÜV-Stand: Alle NordhäuserInnen können ihre Fahrräder durchprüfen lassen.

Am Zaun, für jeden Vorbeifahrenden sichtbar hängt ein Pappschild mit dem Besetzungstag. Ich bin am 17. und 18. Besetzungstag dort. Nachts wird das Schild angestrahlt. Abends gegen zehn kommt ein Polizeiauto vorbei und hupt. Als Reaktion Daumen nach oben, ein besonders lautes Trillern und ein trockener Kommentar: "Das ist der erste, der hupt, bisher haben die Polizisten nur freundlich gewunken".

Affront durch Althaus

Der thüringische Ministerpräsident Althaus war mittels eines offenen Briefes um Unterstützung, d.h. Suche nach einem Investor gebeten worden und um einen Besuch im Werk. Die Antwort steht am Freitag, dem 27.7. in der Thüringer Allgemeinen: "Dieter Althaus (CDU) kommt nicht. Der Thüringer Ministerpräsident lehnte die Einladung ins Fahrradwerk...ab. Die Landesregierung habe keine Möglichkeit, politischen Einfluß auf die Entscheidungen von Bike Systems zu nehmen..." Die KollegInnen diskutieren und sind sich einig: "Wenn der Althaus nicht zu uns kommt, fahren wir eben nach Erfurt. Wir sind schon mal im Landtag gewesen".

Die Absage wird schon als kleiner Affront empfunden: "Wir zahlen doch dem Althaus mit unseren Steuern sein Gehalt und der kommt nicht mal hierher". "Erst zahlen die Politiker denen Subventionen und die kriegen Steuerermäßigungen, dann macht Bike Systems den Laden dicht und braucht keine Steuern zurückzahlen. Und uns will Lone Star auch noch um die Abfindung prellen!". Nachdem sie es schon aus der Zeitung erfahren hatten, bekamen sie am Dienstagmittag dann ein Fax mit der förmlichen Absage.

Der Ministerpräsident schreibt: "Der Verlust von 130 Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe ist schmerzlich. Für die Thüringer Landesregierung besteht allerdings kaum eine Möglichkeit auf unternehmerische Entscheidungen Einfluß zu nehmen; eine Intervention mit dem Ziel der Rückgängigmachung der Betriebsstillegung wäre offensichtlich aussichtslos...".

Alle machen mit!

Den Beschäftigten wurde angeboten, bei MIFA in Sangerhausen weiterzuarbeiten. 60-70 KollegInnen könnten in Sangerhausen anfangen. Nur zwei Kollegen haben eingewilligt. Die anderen befürchten, ihre durch jahrzehntelange Arbeit erworbenen Ansprüche zu verlieren: Kündigungsschutz bis zu sieben Monaten und die Abfindung. Und sie fürchten, in Sangerhausen dann die ersten zu sein, die rausfliegen. Sie halten durch, weil sie eine angemessene Abfindung haben wollen, sie sehen nicht ein, daß sich ein milliardenschwerer Konzern aus der "Verantwortung davonstehlen" will. Warum will Lone Star diese peanuts nicht zahlen? Weil er befürchtet, in Zukunft mit hohen Abfindungsforderungen konfrontiert zu werden? Die Streikenden von AEG Nürnberg erkämpften sich bekanntlich 2006 eine Abfindungsquote von 1,88 Monatsgehältern pro Beschäftigungsjahr.

Wenn kein Geld da ist, müßte Bike Systems Konkurs anmelden. Wenn das nicht passiert, wäre das Insolvenzverschleppung, die strafbar ist. Ein Konkurs andererseits würde dem Ruf schaden, den selbst Heuschrecken anscheinend noch zu verlieren haben. Außerdem besteht bis zum 31.12.07 Standortbindung, da Bike Systems öffentliche Mittel erhalten hat.

Am liebsten wäre den Kollegen, daß ein neuer Investor käme: "Was wir dann produzieren, wäre uns ziemlich egal". Das scheint mir aber nur so dahingesagt, der Produzentenstolz auf ihre Fahrräder dringt immer wieder durch.

Am 18. Besetzungstag ist wieder Betriebsversammlung, diesmal mit ihrem Anwalt, Jürgen Metz aus Erfurt, den sie schon seit dem letzten Insolvenzverfahren vor ein paar Jahren kennen und dem sie vertrauen. Die Gesichter der Herauskommenden signalisieren: Nichts Neues. Anfang August soll es eine Verhandlung bei der Einigungsstelle geben.

Der jetzige Besitzer des Geländes und der Anlagen heißt Biria. Bike Systems ist nur Pächter. Ab und zu kommen noch LKW auf das Gelände und holen Maschinenteile ab und bringen sie nach Sangerhausen. Der Anwalt hatte ihnen geraten, die Transporte nicht zu behindern.

Ein Kollege verspricht mir, am nächsten Tag einen Katalog der im Werk hergestellten Fahrräder mitzubringen. Es sind Fahrräder bis ca. 2.000 DM drin, viele der Marke Dührkop. "Früher haben wir auch hochwertige Rennräder hergestellt, die letzten Jahre eher für Baumärkte und aldi".

Weiterproduzieren? Schöner Gedanke!

Mit der Post wird ein großes Paket mit Kaffee (Marke Störtebeker) gebracht, mit dem Versprechen, bei Bedarf ein weiteres Paket zu schicken. Absender ist ein Hamburger Kollektiv. Es gehen etliche Solidaritätsschreiben ein, in einigen steht die Aufforderung, doch die Firma zu übernehmen und weiter Fahrräder zu bauen. Es sind schon mehrere Bestellungen dabei! Ein Mann aus Holland schreibt, er kenne mehrere linke Fahrradhändler, die würden gern die Fahrräder aus der besetzten Fabrik verkaufen. Ich mache einen Kollegen auf die Bestellungen und Versprechungen aufmerksam. Er habe auch schon dran gedacht, das wäre eine schöne Lösung. Aber einige gute Kollegen, die man dazu brauchte, seien schon nicht mehr da - und woher solle das Geld kommen?

Ich denke wieder an 1973, die Besetzung der Uhrenfabrik LIP in Besancon (Frankreich). Bei ihnen wurden zigtausende Uhren in wenigen Wochen bestellt, sie kamen mit der Produktion kaum nach. Die Solidarität nicht nur in Frankreich war atemberaubend. Davon rede ich nun lieber doch nicht. Ich würde mir vorkommen wie: Der rote Großvater erzählt.

Das zentrale Symbol der Besetzung ist die Heuschrecke, der zentrale Satz: "Wir haben nichts zu verlieren". Beim halbjährigen Streik von gate gourmet in Düsseldorf 2005/2006 gab das Plakat "Menschenwürde!" den Kern des Kampfes wider.

Nachhaltiger Eindruck: Ruhe und Gelassenheit

Als ich mich verabschiede, kommt mir der Gedanke, daß Besetzung genau so anstrengend sein kann wie Produktionsarbeit: wahrscheinlich haben die Posten vor dem Zaun schmerzende Kehlen, Arme und Daumen. Ich habe sie leider nicht danach gefragt. Aber mit ihrer ausdauernden Antwortgeste auf das Solidaritätshupen wollen die BesetzerInnen wohl ihre Hartnäckigkeit und Unnachgiebigkeit bekunden.

Ich muß an die 160 LeiharbeiterInnen denken, die bis vor drei Wochen dort ihren Arbeitsalltag verbracht hatten wie die 135 BesetzerInnen. Wo sind die jetzt? Was machen die? Haben sie wieder Jobs? Ich hatte einen Kollegen nach den LeiharbeiterInnen gefragt.: Er zuckte die Schultern: "Die sind ja weg". Es hätten sich nur zwei von ihnen mal auf dem besetzten Gelände gezeigt. Ich überlege: Könnte der Kontakt zu ihnen und zu den "Konkurrenten" aus Sangerhausen nicht Kampfverstärkung sein?

Auf der Heimfahrt fällt mir ein, daß die gelassene, ja heitere Stimmung der stärkste Eindruck in diesen beiden Tagen war. Auf der Hinfahrt hatte ich gedacht, daß mich Wut, Empörung, vielleicht Niedergeschlagenheit und Angst vor ALG II erwarten. Sie haben alles wohl schon mehrere Male durchlebt in einer Achterbahn der Gefühle - geblieben ist Gelassenheit, Offenheit, fast heitere Stimmung.

Wer ist eigentlich Lone Star?

Wieder zu Hause google ich, um rauszukriegen, wer Lone Star überhaupt ist. Folgende Informationen aus wikepedia und Südd. Zeitung v. 17.12.04.:

Die Zentrale der us-amerikanischen Investmentfirma ist in Dallas/Texas. Lone Star agiert weltweit, früher vorwiegend in Ostasien, jetzt in Deutschland. Die deutsche Zentrale ist in Frankfurt. Leiter: Karsten von Köller. Geschäftsmethode: Sie kauft von deutschen Banken notleidende und unrentable Immobilienkredite (seit ca. drei Jahren auch Firmenkredite). Lone Star ist Marktführer in Deutschland bei den faulen Krediten. Profitrate über 20 Prozent. Die Bilanzen der verkaufenden Banken werden dadurch entlastet.

Die Fonds von Lone Star kaufen leistungsgestörte Darlehen aller Art. Die Schwesterfirma Hudson Advisors verwertet sie. In der Frankfurter Deutschland-Zentrale sitzen eine handvoll Lone Star Manager und über 100 Abwickler von Hudson Advisors. Ihr Repertoire: Gerichtstitel, Zwangsverwaltung oder Zwangsversteigerung. Nach eigenem Bekunden brauchen sie diese Palette von "Folterwerkzeugen" aber nicht auszunutzen...

Weltweit gibt es etwa 40 Verhandlungsführer und 900 Abwickler bei Hudson Advisors. In Deutschland soll Lone Star inzwischen in jeder größeren Stadt bis zu vier Immobilien gehören (Stand 2004). Experten schätzen das Volumen an Problemkrediten in Deutschland auf 300 bis 400 Milliarden Euro (Stand 2004). Das entpräche der jährlichen Wirtschaftsleistung der Niederlande.

Bremer Stadtmusikanten inspirieren zu fiktivem Flugblatt

Bei labournet finde ich "einen (noch) fiktiven Entwurf eines möglichen Flugblattes. Es liegt an euch, ob ihr es so oder ähnlich realisiert und verteilt: ` Was besseres als die drohende Arbeitslosigkeit finden wir allemal!´"

Es stammt von Wolfgang Huste. Er fordert die BesetzerInnen am deutlichsten von allen Linken zur Weiterproduktion auf. Ich schreibe ihm meine Kritik an dem fiktiven Flugblatt. Es entwickelt sich ein Briefverkehr. Der Kollege hat sich wohl von den "Bremer Stadtmusikanten" der Brüder Grimm inspirieren lassen. Dort heißt es: " etwas Besseres als den Tod findest Du überall".

Republik wird umgekrempelt - kaum Widerstand, Linke ratlos

Hinter den Vorschlägen an die BesetzerInnen, sich möglichst radikal zu verhalten steht das Problem: Wie können sich GewerkschafterInnen/Linke solidarisch verhalten? Wie können sie kämpfende Belegschaften unterstützen? Die Republik wird umgekrempelt von Kapital und Kabinett. Der Druck auf Beschäftigte, Rentner, Erwerbslose und Kranke wird noch zunehmen. Der Widerstand hoffentlich auch. Leider gibt es noch viel zu wenig Beispiele wie Gate Gourmet (Düsseldorf), Bosch-Siemens (Berlin) und noch einige andere und jetzt Bike Systems. Die Regel ist leider, daß Menschen nicht kämpfen, sich lieber anpassen und hoffen. Wie auch bei Bike Systems in Neukirch. Was heißt also praktische Unterstützung, wie verstärken oder organisieren sogar Widerstand? Nach meinem konkreten (Reise-) Bericht nun einige allgemeine Gedanken zu diesem Thema.

Wie bringen Außenstehende ihre Erfahrungen ein?

Die BesetzerInnen haben fast jeden Tag volles Programm, selbstorganisierte Veranstaltungen und Aktionen, aber auch Auftritte von BesucherInnen, Gespräche mit PolitikerInnen. Das wollen sie auch so. Und dann mehren sich aus der ganzen Republik die emails und Briefe und auch die Besuche. Mit einigen Gruppen, die auf gleicher Wellenlänge liegen, diskutieren sie bis nachts um zwei.

Es geht ihnen darum, die Löhne für die nächsten viereinhalb Monate zu bekommen und die Abfindungen. (Die BesetzerInnen haben Kündigungsfristen zwischen ein und sieben Jahre erworben. Sie haben sich solidarisch auf einen durchschnittlichen Wert von viereinhalb Monaten geeinigt). Darin sind sich alle einig und wollen sich damit durchsetzen gegen den Milliardenkonzern Lone Star, von dem sie sich beiseite geschoben fühlen wie ausgediente Putzlappen.

Es ist ein Irrglaube, daß erst die linken Besserwessis kommen müssen, um den Kämpfenden die richtigen Kampfziele zu liefern. Und wenn die westdeutschen Linken ihre zweifellos nützlichen langjährigen Erfahrungen im Klassenkampf weitervermitteln wollen, bleibt immer noch die Frage der Methode und der Kommunikation.

Es geht um sehr viel, aber nicht ums Leben

Die BesetzerInnen haben in der vierten Besetzungswoche einen Film gesehen über eine Fabrikbesetzung in Argentinien mit Produktionsweiterführung, vorgeführt von attac Leipzig. Kommentar eines Kollegen: "Ein wirklich guter Film. Es wäre ja die schönste Lösung. Wir würden dann unsere Fabrik VEB Fahrradwerke Nordhausen nennen, denn dann wäre die Fabrik ja wirklich volkseigen. Aber in Argentinien ging es ja wirklich ums nackte Überleben". Was er meint: In Nordhausen geht es um viereinalb Monate Weiterzahlung des Lohnes und um Abfindungen, Schaffung einer Transfergesellschaft. Und danach droht im Gegensatz zu Argentinien immer noch nicht der Abgrund sondern die Möglichkeit einer Umschulung und später allerdings dann ALG II. Das bekommt heute bereits jeder 2. oder 3. ihrer Nachbarn.

Ihr Widerstand kristallisiert sich in dem Punkt, das erreichbare Materielle herauszuholen. Dahinter steckt auch die Verletzung ihrer Würde, nicht mal das ausbezahlt zu bekommen, was in Deutschland üblich ist.

Immer wieder LIP

Von Linken wird den BesetzerInnen der Vorschlag gemacht: Macht es doch wie bei LIP, die während der Besetzung weiter Uhren fabrizierten. Ehe wohlfeile Ratschläge gemacht werden, sollte allerdings die Ausgangslage bei LIP und bei Bike Systems bedacht werden. Die LIP-Belegschaft schaffte hunderttausende hochwertige Uhren beiseite, ihren "Kriegsschatz". Auch davon zahlten sie sich acht Monate ihren Lohn weiter. LIP war nicht nur eine Uhren- sondern auch eine Waffenfabrik. Die Maschinen und die Fachkräfte an diesen Maschinen wurden von Kapital und Staat benötigt. Bei Bike Systems fehlen schon viele für eine Weiterführung der Produktion notwendigen KollegInnen. Die Räder werden in Taiwan und China vorgefertigt, nur Lackierung und Endmontage passiert in Nordhausen. Weder die Rüstungsindustrie noch Lone Star brauchen Bike Systems Nordhausen. Die KollegInnen wissen, daß sie schlichtweg ökonomisch überflüssig sind und keinen "Kriegsschatz" haben und keine Druckmittel. Ehe gute Ratschläge erteilt werden, sollte man sich nach den Bedingungen erkundigen, sonst blamiert man sich.

Wenn wir von LIP lernen wollen, dann nützt der kurzschlüssige Ratschlag, "macht es doch wie bei LIP" überhaupt nichts, er ist in seiner Oberflächlichkeit purer Unsinn. Viel zu lernen von LIP ist allerdings, wenn wir die Ausgangsbedingungen und den Charakter des damaligen Kampf studieren. Dazu ist das bereits zitierte Buch von Monique Piton: Anders Leben bestens geeignet. Es ist außerdem authentisch und spannend geschrieben, wie ein Tatsachenroman! Zu kaufen über www.zvab.de.

Der Wert des Kampfes

Was ist der Wert des Kampfes bei Bike Systems? Der Kampf selbst ist der Wert, daß er durchgehalten wird, die Diskussionen in der Belegschaft, die Horizonterweiterungen von BesucherInnen und BesetzerInnen, daß wir sinnvolle Unterstützung lernen, daß wir lernen zu fragen: Wie und wodurch können wir euch unterstützen?

Die BesetzerInnen bewegen sich mit ihrer Kampfpraxis und ihrem Kampfziel im Bereich der Bestimmung des Wertes der Ware Arbeitskraft. Wenn die Linken in Westdeutschland auch selbst nie über diesen Rahmen hinausgekommen sind, es sei denn in ihren Diskussionen und Wunschträumen, so erwarten sie nun aber, daß die BesetzerInnen diese Utopie realisieren, zumindest begeistert aufnehmen. Sie erkennen nicht, daß die Aufnahme des Kampfes das eigentlich politisch Wertvolle ist. Bei ihrer Herangehensweise werden sich einige Linke in einigen Wochen enttäuscht abwenden, weil die BesetzerInnen ihren Ansprüchen nicht genügt haben.

Was zu hoffen wäre...

Die Besetzung von Bike Systems ist ein mutmachendes Beispiel. Sie löst vielleicht einen produktiven Streit aus, was Solidarität und sinnvolle Unterstützung ist und was Wunsch nach Erfüllung eigener Projektionen. Aus dem eigenen politischen Nest oder über den Zaun des eigenen politischen Kleingartens zu schauen und den Kämpfenden "weiter so, wir stehen auf eurer Seite" zuzurufen und als Gratisbeigabe noch das Rezept des richtigen Zieles beizulegen, sollte reflektiv als etwas Unpassendes eingesehen werden. Deshalb mein Rezept: Die UnterstützerInnen müsssen sich organisieren, über effektive Unterstützungsarbeit diskutieren und sie praktizieren. Gelegenheiten werden sich in Zukunft genügend bieten. Dieser Weg ist die aktuelle politische Notwendigkeit.

Was ist wirkliche Bewegung?

"Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme", schreibt Karl Marx am 5.5.1875 an Wilhelm Bracke. Das Vorantreiben wirklicher Bewegung betont Marx noch öfter in seinen Werken. Was ist wirkliche Bewegung? Damals wie heute: kämpfen und sich organisieren.

Die BesetzerInnen kämpfen um ihre Ansprüche und organisieren sich in der Besetzung, sie gehen also Schritte vorwärts.

Die Linke würde Schritte wirklicher Bewegung machen, wenn sie sich in Foren, Jour Fixe oder anderen Formen organisieren würde mit der Hauptaufgabe, betriebliche Kämpfe zu stärken, zusammenzuführen, ihnen einen Ort der Diskussion und Sammlung zu bieten.

Die Gewerkschaften sind in ihrer Klassenverbrüderung mit dem Kapital dazu unfähig. Wir müssen unser Solidaritätsnetz von unten aufbauen, damit nicht jede/r für sich allein stirbt, sondern damit wir gemeinsam kämpfen um zu leben. Und wir bestimmen, was leben heißt. Daß leben mehr bedeutet als im Kapitalismus moralisch, kulturell und für immer mehr auch materiell dahinzuvegetieren.

Dieter Wegner (Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg)

(Kontakt: Wegner.Dieter(a)t-online.de Tel. 040 - 34 42 39

Quelle: http://www.labournet.de/branchen/sonstige/fahrzeug/bikewegner.html

Bei Labournet gibt es eine Sonderseite zu Bike Systems Nordhausen: http://www.labournet.de/branchen/sonstige/fahrzeug/bikesystems.html