ANARCHIE! Idee - Geschichte - Perspektiven

NDR und Süddeutsche Zeitung: Sachbücher des Monats Juni 2007

In dieser Monatsliste ist das libertäre Verlagsspektrum gleich dreimal platziert:

Unermesslich viele Bücher gibt es, die unser Wissen mehren und unser Denken weiten wollen. Die große Jury (siehe unten), die alle vier Wochen für den NDR und die Süddeutsche Zeitung die Sachbücher des Monats bestimmt, hat wieder ein paar lesenswerte gefunden.
Auf Rang eins steht diesmal Horst Stowasser’s Einführung in die ANARCHIE! Der 56-jährige Autor ist kein reiner Theoretiker. Er lebt mit Gleichgesinnten in einem eigenen kleinen Projekt nach anarchistischen Prinzipien.

Die nahe Zukunft wird zeigen, ob die in der Jury vertretenen Medien ( > taz > NZZ > Welt > Spiegel > Zeit etc.) dieses Buch wenigstens ansatzweise verstanden haben, und in ihrer zukünftigen Berichterstattung den Begriff „Anarchie“ nicht doch wieder mit Chaos und Terror gleichsetzen, wenn in Afghanistan, Irak und anderswo wiedereinmal unerbittlich um die Macht im Staate gekämpft und die Menschen deswegen ins Chaos (Bürgerkrieg/Krieg) gestürzt werden. Deshalb sollte ihre Berichterstattung auch weiterhin genau beobachtet und gegebenenfalls interveniert werden.

Kein Gott !
Kein Staat !
Kein Herr !
Kein Sklave !

b>1. Horst Stowasser
29 Punkte
ANARCHIE! Idee - Geschichte - Perspektiven
Edition Nautilus, 512 Seiten, € 24,90, sFr 41,70
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3. Dieter Richter
27 Punkte
Der Vesuv. Geschichte eines Berges
Verlag Klaus Wagenbach, 224 Seiten, € 24,50, sFr 42,90
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7. Mike Davis
21 Punkte
Planet der Slums. Übersetzt von Ingrid Scherf.
Assoziation A, 248 Seiten, € 20,00, sFr 33,90

Alexander Solloch hat das Sachbuch des Monats Juni gelesen.

'Element of Crime' - Bring den Vorschlaghammer mit!
Bring den Vorschlaghammer mit,
Wenn du heute Abend kommst
Dann hauen wir alles kurz und klein!

Erschütternd, diese Rabauken, aber... das ist ja so in etwa die Vorstellung, die wir alle auf Anhieb in uns finden: Anarchie, das ist doch Chaos, ist doch Unordnung und Ausschweifung, kurz: etwas ganz und gar Abscheuliches!
Zitat: "Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft. Sie will etwas ganz Neues schaffen: ein Leben, in dem die Freiheit der Menschen obenan steht und nicht die Wirtschaft oder die Arbeit an sich. Das Dasein soll auch Spaß machen. Alles, was getan und geändert werden muss, sollen die Menschen - und zwar alle Menschen! - selbst organisieren. Das, was sie für ein anständiges Leben brauchen, wissen sie selbst am besten und können es auch sehr gut selbst entscheiden. Nicht der Herr, nicht die Wissenschaft oder die Wirtschaft dürfen ihnen ihr Leben vorschreiben? Sie selbst sollen es bestimmen...", schreibt nun aber Horst Stowasser.
Ein bekennender Anarchist, der mit seinem ziegelsteindicken Buch aufklären will: aufklären über das, was Anarchie in seinen Augen ist und nicht ist, was sie leisten kann und warum sie seiner Meinung nach eine dem Menschen sehr angemessene Lebensform ist.
Zitat: "Lebendige Anarchie ist kein neues Regelwerk, sondern eine Idee, das Leben freier zu gestalten. Leben aber ist nicht etwa nur Essen, Schlafen, Wohnen, Arbeit oder soziale Organisation. Leben ist allumfassend, bunt, vielfältig, kreativ..."
Ein sonderbares Buch: es regt auf, löst Kopfschütteln aus, und erregt möchte der Leser rufen: so einfach geht das doch nicht! und das ist doch naiv! Und überhaupt ...! Ja, es ist ein Buch, das einige Schwächen hat. Horst Stowasser findet keine klare Position, will vordergründig beobachtender Wissenschaftler sein und wird doch immer wieder Partei, wankt und schwankt ohne Linie zwischen Konjunktiv und Indikativ, verliert sich bisweilen in Geschwätzigkeiten - und doch: ein faszinierendes Buch, ein bereicherndes Buch. Es bereichert, weil es zeigt, der Glaube an vermeintliche Selbstverständlichkeiten kann ganz leicht erschüttert werden, wenn der Mensch einfach mal Fragen stellt.
Zitat: "Das Potenzial möglicher Empörer ist unerschöpflich. Wohl jeder selbstbewusste Mensch kennt diesen Zorn. Vielleicht haben auch Sie sich schon einmal die Frage gestellt, wieso da eigentlich Menschen über Ihnen sind, die Ihnen Anweisungen geben und über Ihr Leben und Ihre Zukunft entscheiden dürfen: ein ganzes System der Hierarchie, von dem wir ja schließlich wissen, dass es alles andere als gut funktioniert."
Es sind die Fragen, die das Buch so wertvoll machen, es ist das Einfach-Mal-Drüber-Nachdenken: Mit welchem Recht erheben sich Menschen über andere, um ihnen zu befehlen? Mit welchem Recht denken Menschen an den schnellen Euro von heute und verhöhnen das Leben von morgen? Mit welchem Recht zerstören Menschen die Erde? Der Anarchist schlägt vor: die Hierarchien werden abgeschafft, die Menschen versuchen, in kleinen Gruppen, vernetzt, nach ihrer Fasson, miteinander zu leben, nicht fremdbestimmt, sondern nach dem Prinzip der freien Vereinbarung.
Zitat: "Das Leben selbst würde zu einem Kunstwerk: Kunst, Alltag, Freude, Protest, Genuss, Provokation, Spontaneität, Kreation und Kommunikation – all das ginge eine kaum noch entwirrbare Verbindung ein, die in der Lage wäre, Grenzen zu sprengen. Die Natur kennt all das: Kooperation und Konkurrenz, Tausch, Diebstahl und Geschenk, Verdrängungskampf und gegenseitige Hilfe, Hierarchie, Solidarität und Freiräume. Die Natur regelt sich selbst, und zwar mit großem Erfolg."
Schafft das auch der Mensch? Horst Stowasser kann es nicht beweisen – aber er macht Lust auf den Gedanken, dass wir noch nicht alle Möglichkeiten der Freiheit ausgeschöpft haben. Die 'anarchistischen Essentials' sind schließlich nicht in einer Studierstube entstanden, sondern entspringen dem realen Leben - und das seit Tausenden von Jahren. Vor allem aber bleibt das Experiment. Vermutlich werden wir erst dann wissen, ob der Mensch in Freiheit leben will und kann, wenn man ihn lässt.

Die vollständige Liste findest Du unter:
http://www.ndrinfo.de/kultur/buch-tipp/buchtipp190.html

Die Jury: Prof. Dr. Rainer Blasius, FAZ; Dr. Eike Gebhardt; Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung; Dr. Wolfgang Hagen, Deutschland Radio Kultur, Daniel Haufler, TAZ; Dr. Otto Kallscheuer; Dr. Matthias Kamann, Die Welt; Petra Kammann, Guido Kalberer, Tages Anzeiger; Elisabeth Kiderlen; Jörg-Dieter Kogel, Nordwestradio; Hans Martin Lohmann; Prof. Dr. Ludger Lütkehaus; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Dr. Johannes Saltzwedel, Der Spiegel; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, Telepolis; Albert von Schirnding; Norbert Seitz, Frankfurter Hefte; Dr. Eberhard Sens, Rundfunk Berlin Brandenburg; Hilal Sezgin; Dr. Volker Ullrich, DIE ZEIT; Dr. Andreas Wang, NDR Kultur; Dr. Uwe Justus Wenzel, Neue Zürcher Zeitung

Interview mit Hort Stowasser:

http://divergences.be/spip.php?article898