Die Rückkehr des Streiks

Infineon in München, GateGourmet am Düsseldorfer Flughafen, AEG in Nürnberg, HafenarbeiterInnen in Hamburg und ganz Europa... Es sieht schwer danach aus, als könnte die arbeitende Klasse ein neues Kapitel aufschlagen, nachdem sie seit fast 15 Jahren tot geglaubt, tot geschrieben und ins abseits dirigiert worden ist. Das schlägt sich auch seit ein paar Monaten auf dieser Website wieder. Arbeitskämpfe nehmen zu.
Der folgende Artikel stammt aus der Direkten Aktion Nr. 173 (Jan./Feb. 06) und versucht ein Resümee der jüngeren Vergangenheit und eine verhaltene Einschätzung der momentanen Großwetterlage (Wir sind keine Propheten).

Eine vergessen geglaubte Kampfform steht wieder auf der Tagesordnung.

Für das erste halbe Jahrzehnt des neuen Jahrtausends registrierte die
amtliche Streikstatistik durchschnittlich vier durch Streiks verlorene Arbeitstage pro Jahr und tausend Beschäftigte. Damit bildet Deutschland nicht nur international eines der Schlusslichter des Streikgeschehens, auch historisch ist dies ein absoluter Tiefststand – gemessen an durchschnittlich 57 Tagen in den 70er, 29 in den 80er und noch 13 in den 90er Jahren.

Die Bedeutung solcher Zahlen liegt nicht in dem „volkswirtschaftlichen Schaden“. Eine Veränderung des Krankenstands im Promillebereich wirkt sich sehr viel drastischer auf das gesamtgesellschaftliche Arbeitsvolumen aus. Aber die Erosion der Streikkultur ist ein zentrales Anzeichen für das gesamte Arbeiterverhalten. Wenn offene und kollektive Arbeitsverweigerung nicht mehr angesagt ist, färbt das auf andere antagonistische Verhaltensweisen ab, wie das mehr oder weniger kollektive Blaumachen. Der Krankenstand sank von fast sechs Prozent Ende der 70er Jahre auf 3,4 Prozent in 2004 und damit auf das niedrigste Niveau seit Einführung der Lohnfortzahlung im Jahr 1970. Was statistisch wie eine kleine Verschiebung um zwei, drei Prozentpunkte aussieht, ist Ausdruck eines dramatischen Machtverfalls der ArbeiterInnen in der Produktion und eine deutliche Verlängerung der realen Arbeitszeit. Diese Zahlen lassen nur ahnen, was aber in der Produktion täglich erfahren wird: die Intensivierung, die „dichtere Ausfüllung der Poren der Arbeitzeit“.

Gewerkschaften als Verhinderungsvereine

ArbeiterInnen sehen im Streik nie nur eine bloßes Instrument, um eine bestimmte tarifliche Forderung durchzusetzen. Streik ist für sie zugleich eine Rebellion gegen die tägliche Kommandogewalt des Unternehmers: einmal nicht tun, was der Chef sagt; den Bossen einmal zeigen, dass ArbeiterInnen, die zusammenhalten, seine schönen Produktionspläne durcheinanderbringen können. So entsteht Selbstbewusstsein und wird deutlich, dass es um weit mehr als einen neuen Tarifvertrag geht, dessen Friedenspflicht uns wieder der täglichen Schikane und Anweisung ausliefert. Für Gewerkschaften ist jeder Streik ein Spiel mit dem Feuer.
Sie müssen sich nach zwei Seiten legitimieren: als „kämpferische“ Interessensvertretung ihren Mitgliedern gegenüber, als „verantwortliche“
Organisatoren des produktiven Friedens den Unternehmern gegenüber. In der
Ausbildung zum DGB-Gewerkschaftsfunktionär wird eindringlich gewarnt: es
ist viel leichter, einen Streik zu beginnen, als ihn zu beenden. Beteiligung und Selbsttätigkeit der ArbeiterInnen an Streiks werden nur sehr dosiert und kontrolliert zugelassen. Streik sei die „ultima ratio“.
Von Emanzipation in und durch Streiks keine Rede.

Tiefpunkt Metall-Streik 2003

Verlorene Streiks wirken nachhaltig. Vor allem, wenn die Niederlage in
schreiendem Widerspruch zur möglichen Macht der ArbeiterInnen steht. In
diesem Sinne wirkte der Abbruch des Metallerstreiks im Osten lange nach.
Genau in dem Moment, als sich die Unterbrechung der Zulieferproduktion auf
die großen Autofabriken auszuwirken begann, wurde der Streik Ende Juni 2003 auf Geheiß der Betriebsratsfürsten in dieser Industrie von der IG-Metall abgebrochen.

Die „öffentliche Meinung“ klatschte Beifall: Streiks passten nicht in die „moderne Gesellschaft“. Der „moderne Arbeiter“ sei Aktienbesitzer und denke selber unternehmerisch. Die linke Soziologie sekundierte mit verschraubten Theorien über die Ablösung des Proletariers durch den neuen Typus des „Arbeitskraftunternehmers“. Der moderne Marxismus in Deutschland
predigte schon seit den 90er Jahren, dass Kapitalist und Arbeiterin gleichermaßen „Warensubjekte“ seien.

Die Ideologie, dass sich alle gesellschaftlichen Zusammenhänge in „Angebot
und Nachfrage“ auflösen, schien überwältigend. Mit Hartz IV wurde die
Trennlinie zwischen „ehrbarem Arbeiter“ und „arbeitsscheuem Gesindel“
entsprechend neu gezogen: statt der Anbindung der Lohnersatzleistung an
den früheren Lohn droht das schnelle Absinken in die Schicht der Almosenempfänger.

Signal an die Unternehmer

Die Kapitalisten verstanden sofort, dass Hartz IV ihre betriebliche Kommandogewalt stärkte. Es konnte ihnen nur recht sein, als nach der
Sommerpause 2004 die neuen Bedingungen auf einmal in den grellsten
Horrorszenarien ausgemalt wurden. Je größer die Angst vor Arbeitslosigkeit, desto mehr würden sich die Ausgebeuteten gefallen lassen. Auf breiter Front wurde die Verlängerung der Arbeitszeit – ohne Lohnausgleich – gefordert und durchgesetzt, die Produktivität durch Massenentlassungen hochgetrieben.

Aber der Herbst 2004 brachte auch eine andere Wende, die wir möglicherweise bis heute noch nicht so ganz begreifen. Die Montagsdemonstrationen und der wilde Streik bei Opel in Bochum hatten einen Typus des gesellschaftlichen Konflikts hervorgekehrt, der nicht zur Bilderwelt des „Arbeitskraftunternehmers“ oder der „Warensubjekte“ passte, aber auch für die Kampagnenpolitik der radikaleren Linken zu überraschend kam.

Krise des Staates + unkontrollierte Bewegungen

Auffälligstes Merkmal dieser Bewegungen war die fehlende Organisierung
oder Vermittlung durch eine anerkannte politische Kraft. Der IG-Metall
gelang es nur durch ein äußerst plumpes Manöver, den wilden Streik
abzubrechen – auf Kosten ihre Legitimation. Nach dem Abbruch des Streiks
im Osten 2003 hatte selbst die junge Welt geschrieben: „Dass die wütenden
Metaller den Streik auch gegen den Willen ihrer Führung weiterführen werden, erscheint unwahrscheinlich. Dafür bedarf es oppositioneller und Basisstrukturen, deren Aufbau die gewerkschaftliche Linke nun forcieren sollte.“ (30.6.2003) Bei Opel waren alternative Strukturen handlungsfähig geworden. Die Entscheidung über Streik liegt nun nicht länger allein bei den staatlicherseits befestigten Gewerkschaften.

Die ArbeiterInnen bei AEG in Nürnberg haben diese Erfahrung aufgegriffen,
auch wenn zur Zeit unklar ist, ob sie sich der gewerkschaftlichen Vermittlung entziehen können. „Die Kollegen legen immer wieder spontan die Arbeit nieder oder arbeiten sehr langsam, hier und da werden die Bänder abgeschaltet, viele haben sich krankschreiben lassen. Man ist immer wieder überrascht, was sich die einzelnen Abteilungen einfallen lassen, um die Produktion zu unterbrechen. Nichts ist geplant oder koordiniert.“ (Interview mit einem Arbeiter, jW 17.12.2005)

Die Krise der staatlichen Vermittlung, die sich in dem Zwang ausdrückt,
nur noch als große Koalition regieren zu können, und eine deutliche Entfremdung der ArbeiterInnen von der gewerkschaftlichen Verhandlungslogik, bilden die Rahmenbedingungen für die „Rückkehr der Streiks“, die in zweierlei Hinsicht eine neue Bedeutung erhalten werden.

Überwindung öder Rituale

Erstens können sie nicht länger als institutionalisierte Rituale funktionieren. Streik wird zum ernsthaften Machtkampf. Die ArbeiterInnen werden nach Punkten suchen, an denen sie empfindliche Verkettungen der Produktion treffen können. Den Streikenden bei Opel war bewusst, dass nur wenige Tage fehlten, um den gesamten europäischen GM-Verbund lahm zu legen. Selbst in gewerkschaftlich organisierten Streiks wie dem Arbeitskampf bei der Gate Gourmet am Düsseldorfer Flughafen stellt sich zunehmend diese Frage. In solchen kleinen und isoliert bleibenden Streiks ist es längst üblich geworden, dass der Unternehmer die kämpfenden ArbeiterInnen durch systematischen Streikbruch ausbremst, um ihnen ihre Ohnmacht zu demonstrieren.

Selbsterfindung der Arbeiterklasse

Zweitens werden Streiks damit zur praktizierten Selbsttätigkeit und Kollektivität – in ihnen stellt sich so etwas wie Arbeiterklasse überhaupt erst wieder her: sicher nicht in altvertrauten Kostümen und hinter traditionsreichen Fahnen, sondern als die Selbsterfindung einer neuen Form kollektiver Subjektivität, die die mystifizierten Mächte des Kapitals und der Globalisierung zersetzt.

Es besteht kein Grund, deshalb schon die Fanfare zum letzten Gefecht zu
blasen. Aber die Zeichen deuten darauf hin, dass zumindest die Streikstatistik in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts wesentlich positiver ausfallen wird.

cf (Köln)