Niemand wartet auf uns! Die Arbeitslosen brauchen die Linken nicht

In einem Artikel für die Wochenzeitung Jungle World (23. Feb. 2005) fasst Heiner Stuhlfauth (FAU Köln) Erfahrungen mit der Kampagne Agenturschluss zusammen und stellt fünf Thesen zu Arbeitslosigkeit, Proletariat und der Linken in den Raum.

Den Ausgang der Kampagne Agenturschluss und die relativ geringe Beteiligung Unorganisierter an den Aktionen am 3. Januar 2005 können wir nur diskutieren, wenn wir uns darüber unterhalten, was wir denn eigentlich erwartet haben.
Denn es sind immer wieder völlig falsche Vorstellungen von den Befindlichkeiten des arbeitslosen Proletariats in diesem Land und seiner Bewegungsweise, die zu überzogenen Hoffnungen und nachfolgender Enttäuschung führen.

[Enttäuschte Liebesmüh einer selbsternannten Avantgarde und ahnungslose Distanz zu den Lebensrealitäten im Lande sind m. E. auch die Triebfeder so manchen antideutschen Blödsinns, durch den sich auch die Jungle World immer wieder hervortut.]

Hier ein paar Thesen:

Das Proletariat wartet nicht auf die Linke.

Die Arbeitslosen brauchen uns und unsere Aktionen genauso wenig wie die arbeitende Bevölkerung. Niemand wartet darauf, dass wir endlich den Arsch hoch kriegen. Schließlich mussten die Leute auch die letzten Jahrzehnte über die Runden kommen, ohne dass ihnen linke SchlaubergerInnen mit ihrer Analyse des Kapitalismus irgendwie weiter geholfen hätten. Nur weil wir in der ganzen Stadt Plakate aufhängen und in den Medien trommeln, heißt das nicht, dass wir eine nennenswerte Bewegung auslösen. Das zu glauben ist naiv, fast schon dreist.

Wir sind selbst nur Proleten. Oder etwa nicht?

Die Besonderheit des gegenwärtigen sozialen Angriffs ist, dass die Trennlinien zwischen Linken und Proletariat zusehends verwischen. Leider wird das nur sehr langsam begriffen. Wir kämpfen also nicht für die Rechte anderer, sondern für uns selbst, unsere FreundInnen und Bekannte. Daher brauchen wir auch nicht auf andere zu schauen, sondern sollten uns bemühen, mit gutem Beispiel voranzugehen, d.h. eine militante Selbsthilfe, Strukturen der kollektiven Selbstverteidigung, revolutionäre Syndikate aufzubauen. Diese Strukturen werden ihre Ausstrahlungskraft auf andere Betroffene nicht verfehlen. Aber sie müssen Kontinuität und Ernsthaftigkeit aufweisen.

Die spontane Selbstorganisation der Betroffenen ist eine Sonderform und im Moment illusorisch.

Es gab so tolle Ideen wie die Einberufung von spontanen Arbeitslosen-Plena auf dem Amt. Natürlich gibt es in der Geschichte Situationen, in denen die spontane Selbstorganisation auf der Tagesordnung stand (beispielsweise die Stadtteil-Asambleas in Argentinien von 1999 bis 2003). Doch meist steckte dahinter bei genauerer Betrachtung eine Vor-Organisierung durch die Lebensverhältnisse. Die Leute waren bereits durch den Arbeitsplatz oder das Zusammenleben im Stadtteil miteinander bekannt. Das Arbeitsamt war bislang ein anonymer Ort, an den du alle halbe Jahre widerwillig gekommen bist und den du so schnell wie möglich wieder verlassen wolltest. Deshalb gibt es einen quasi internalisierten Widerwillen der Arbeitslosen, freiwillig dorthin zu gehen.

Die Arbeitslosen in Deutschland kämpfen nach der Kaugummi-Taktik. Und das sehr effektiv.

Wie das Kaugummi unter der Schuhsohle setzen sich die Arbeitslosen fest. Millionenfach seit Anfang der Achtziger Jahre. Renitent und klebrig, aber, wenn Druck ausgeübt wird, auch geschmeidig, nach außen und in die Ritzen ausweichend. Der Kampf findet nicht im offenen Angriff statt, sondern individuell. Dabei haben die Arbeitslosen ein großes kollektives Wissen über Tricks angehäuft, beispielsweise wie man der Falle der »Bedarfsgemeinschaften« entkommt. Die aktuelle Zahl von über fünf Millionen Arbeitslosen ist ein deutlicher Beleg: Alle sind wieder im Boot, die Anträge komplett abgegeben. Wo du auch hinhörst, mogeln und tricksen die Leute, dass es eine Freude ist. Kann sein, dass ein paar linke Studenten davon nichts mitbekommen.

Protest allein bringt nix.

Protest ist sozial-psychologisch sogar gut für die Herrschaft, weil er das Gefühlsleben wieder ins Lot bringt (Ärger rauslassen) und Tatendrang in meistens nutzlosen, langweiligen und ritualisierten Aktionsformen kanalisiert (etliche Vorbereitungsplena, Aufrufe diskutieren, Rednerlisten erstellen, rumlatschen, Parolen skandieren). Wichtig wäre der Widerstand, also die Konfrontation mit EntscheiderInnen, das Durchkämpfen konkreter Fälle, das Verhindern/Blockieren von Zwangsmaßnahmen wie Ein-Euro-Jobs, Räumungen etc. Dahin muss die Reise gehen.

Jungle World vom 23. Februar 2005


arbeitslosen syndikat / FAU Köln