Prozess gegen <17November>

Griechenland: Seit Juni 2003 werden im Prozess gegen den 17November die Zeugen der Verteidigung gehört. Über 300 Namen stehen auf der Liste und es ist absehbar, dass die Urteilsverkündung gegen die neunzehn Angeklagten nicht wie vorgesehen im August stattfinden wird.

Dienstag, 17.Juni
Ganz Athen ist mit Plakaten zugeklebt die gegen den EU-Gipfel in Thessaloniki mobilisieren. KP, Linksallianz, Anarchistische Bewegung, Antirassistische Gruppen und alle linken Splitterparteien wollen es den Herrschenden zeigen. "Eine andere Welt ist möglich". Keinen Zweifel an ihren Plänen für den EU-Gipfel in Thessaloniki lassen anarchistische Gruppen. "Der Weg des Widerstands gegen die Verfassung der Unterdrückung (..) führt über die Barrikaden von Thessaloniki." Im Zentrum des Plakats ein Vermummter mit erhobener, geballter Faust. Gefängnis Korydallos, hier findet der Prozess statt. Taschen leeren, Ausweis abgeben, durch eine Schleuse gehen, abtasten lassen.

Auf dem Flur rauchende ZuhörerInnen, Angehörige, ZeugInnen, Polizeibeamte. Die Tür zum Verhandlungssaal steht auf. Drinnen sind ca. 50 ZuhörerInnen, davor die fast leeren Stuhlreihen der Presse, dann eine kleine Holzbarriere. Davor die 19 Angeklagten, umgeben von Polizeibeamten. Rechts sitzen die ihre AnwältInnen, links die der Nebenklage, frontal auf erhöhtem Podest Richter und Staatsanwälte. Die zu Prozessbeginn im März installierte Trennscheibe war nach Protesten, Vergleichen mit der Diktatur und der Erwähnung von Stuttgart-Stammheim entfernt worden.

Es spricht Epaminondas Skiftoulis, 48 Jahre, Anarchist und einer der "üblichen Verdächtigen" der 80er und 90er Jahre. "Der 17November war sehr maßvoll mit seinen Aktionen. Aus diesem Grund genoss die Gruppe hohes Ansehen bis in die Reihen ihrer Feinde. Hätten sie Anfang der 80er Jahre ihre Pforten für eine große Anzahl junger Leute geöffnet, würden wir hier unter anderen Bedingungen reden. Nicht dass sie die Revolution gemacht hätten, auf jeden Fall jedoch wären die Lebensbedingungen der Arbeiter weitaus besser." Skiftoulis war zu Beginn der 90er Jahre selbst angeklagt Mitglied des 17November zu sein und saß in U-Haft. Ständig unterbrochen vom Staatsanwalt erläutert er wie damals mit illegalen Verhörmethoden versucht wurde Falschaussagen zu erpressen und angebliche Geständnisse zu erhalten. "Auch hier sind über die Hälfte der Angeklagten unschuldig", ist er sich sicher.

Viele der Angeklagten hatten sich nach ihrer Verhaftung im letzten Sommer zunächst durch umfangreiche Aussagen und gegenseitige Belastungen hervorgetan. Dies änderte sich erst, als sich im Oktober 2002 der untergetauchte Dimitris Koufontinas freiwillig der Polizei stellte. Er übernahm "die politische Verantwortung" für alle Taten des 17November und appellierte an die Mitgefangenen "ihre Würde wiederzuerlangen".

Nach und nach zogen einige ihre Aussagen ganz oder zum Teil zurück und beschuldigten die Polizei der Folter, des psychischen Drucks und der Verabreichung von Psychopharmaka. Die Verteidigung versucht dies zu untermauern. Ehemals als "Topterroristen" verhaftete, berichten über ihre Erfahrungen mit dem Unterdrückungsapparat.

Alle ZeugInnen des Tages betonen zudem den politischen Charakter der Organisation. Auch der ist umstritten, da Gericht und Staatsanwaltschaft "gemeine Kriminelle" am Werk sehen. Der Vorsitzende Richter Michalis Margaritis erregt: "Lassen wir die Ideologie und auch die Bomben beiseite. Das Volk will wissen warum die Gruppe so viele Menschen umgebracht hat" (25 seit 1975). Antwort der Zeugin Maria Georgianni, einer Journalistin: "Die griechische Gesellschaft will ebenfalls wissen warum in Griechenland seit Ende der Militärjunta 1974 mehr als dreitausendfünfhundert Arbeiter auf Baugerüsten und in Fabriken für den rein privaten Gewinn ihrer Bosse sterben mussten."

Mittwoch, 18 Juni
Manolis Glezos, Mythos und zum Tode verurteilter Held des griechischen Befreiungskampfes gegen deutsche Besatzung im 2.Weltkrieg und gegen die Militärjunta 1967-74, verweigert am Eingang jegliche Durchsuchung. Der heute 84jährige Kommunist war es, der nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Athen die Hakenkreuzfahne von der Akropolis holte und durch die griechische Nationalfahne ersetzte. Die Polizeibeamten wissen nicht ein noch aus, sind hin und hergerissen zwischen Ehrfurcht vor Glezos und Befehl. Der zu Hilfe gerufene verantwortliche Offizier erklärt, dass Glezos "natürlich" passieren dürfe. Man kennt sich. Vor 25 Jahren, 1978 im ersten "Terroristenprozess" gegen Serifis war Glezos wie heute Entlastungszeuge, der Offizier als junger Beamter im Gerichtsaal eingesetzt.

Glezos: "Dieser Prozess wird zeigen wie es um die rechtsstaatliche Kultur in unserem Land bestellt ist, und leider sehe ich, dass Giannis Serifis auf Grund einer Manie der Verfolgungsbehörden hier angeklagt ist. Er wird noch immer wegen seiner Ideen verfolgt". Am Nachmittag sagen zwei Bauarbeiter aus Ikaria aus, der Insel auf der Christodoulos Xiros, einer der drei angeklagten Xiros Brüder lebte. Beide bestätigen, dass Xiros seit 20 Jahren das Dorffest am 15.August mitorganisiert und an diesem Datum nie gefehlt hat. Völlig unpolitisch aber eventuell sehr wichtig. Xiros hatte ursprünglich seine Mitgliedschaft im 17November gestanden, und sich zu mehreren Anschlägen bekannt. Einer dieser Anschläge wurde am 15.August 1988 in Athen verübt. Später hat er alle Aussagen wiederrufen und bestreitet jemals Mitglied der Organisation gewesen zu sein. Er habe seinen schwer verletzten Bruder Sabbas nicht alleine lassen wollen, auf Druck der Polizei sich und andere belastet, und von Untersuchungsbeamten vorbereitete Aussagen unterschrieben.

Donnerstag, 19.Juni
Die Universitätsprofessorin Eleni Barika aus Paris wird als Zeugin des Angeklagten Theologos Psaradellis aufgerufen. Der 64jährige Trotzkist hat die Beteiligung an einem Banküberfall in den 80er Jahren gestanden. Mit dem Geld wollte er ein Buch über die Geschichte der trotzkistischen Bewegung finanzieren. Er hat niemanden belastet und bestreitet vehement die Mitgliedschaft im 17November. Die Zeugin hebt Psaradellis` antidiktatorische Aktivitäten hervor und betont, seine Überzeugungen verböten es ihm politische Feinde zu töten. "Es war ein politischer Fehler meines Genossen sich am Banküberfall des 17.November zu beteiligen. Er hätte jedoch nie von der Waffe gebrauch gemacht".

Danach kommt Klearos Smirneos, Anarchist und Lehrer und 1987 als "Topterrorist" von 17November und ELA (Revolutionärer Volkskampf) gemeinsam mit anderen verhaftet. "Hätte es damals das Terrorgesetz von heute gegeben dann wäre ich jetzt noch im Gefängnis. Auch bei uns wurden belastende Indizien konstruiert. Auch damals gab es Fingerabdrücke von Mitangeklagten, was aber nicht als Schuldbeweis ausreichte. Mit Recht, denn nichts ist einfacher als Fingerabdrücke von einem Gegenstand auf einen anderen zu übertragen". Plötzlich wird das Gebäude von einem lauten Knall erschüttert. Alle sind irritiert. Als es wieder knallt wird klar, dass sich direkt über uns ein starkes Gewitter entlädt. Margaritis scherzt: "Der 17.November lebt", alle lachen. Smirneos schließt seine Aussage mit einer persönlichen Erklärung für den Angeklagten Giotopoulos. "Während der 7jährigen Diktatur hat seine Organisation 1971 einen Anschlag auf den Veranstaltungssaal der griechisch-amerikanischen Vereinigung verübt und 1972 die amerikanische Botschaft angegriffen. Für mich ist er ein Held des antidiktatorischen Kampfes und als solchen achte ich ihn".

Die nächste, Isabelle Bertran war 1980 als 22jährige verhaftet worden und anderthalb Jahre in Haft. Sie prozessierte fünf Jahre um zu beweisen, dass "alle Anklagepunkte von der Polizei erstunken und erlogen waren. Ein einziges Konstrukt. Die gleiche Praxis beobachte ich auch jetzt, nur dass sie heute wissenschaftlicher, mit moderneren Methoden arbeiten. Nicht mehr so grob gestrickt wie früher. Ich bin hier als Zeugin der Anklage gegen die Polizei weil diese sich noch immer am Recht versündigt".

Und so geht es weiter. Die Kriminalisierten, Eingeknasteten und Gefolterten von 28 Jahren parlamentarischer Demokratie in Griechenland geben sich ein Stelldichein um über die Methoden der griechischen Polizei zu berichten. Ob das langt, die von den meisten Angeklagten gemachten - mittlerweile zurückgenommenen - gegenseitigen Beschuldigungen zu entkräften ist mehr als fraglich. Serifis und seine Anwälte gehen davon aus, dass das Urteil zu großen Teilen schon geschrieben ist.

Als Ironie des Schicksals kann man die Tatsache bezeichnen, dass ausgerechnet die "üblichen Verdächtigen" der anarchistischen Bewegung vor Gericht gegen lebenslängliche Haftstrafen für viele der Angeklagten ankämpfen. Auf anarchistische Kritik einzugehen hatte der 17November nie für nötig erachtet. Im Gegensatz zu den jetzt Angeklagten haben die unzähligen anarchistischen "Topterroristen" der vergangenen Jahrzehnte weder unter Druck oder Folter, noch schwerverletzt, andere belastet. Durch große Solidaritätskampagnen und das Aufdecken der polizeilichen Konstrukte war es teilweise gelungen die wahre Fratze des Staates hinter der demokratischen Maske zu enttarnen und Freisprüche zu erkämpfen. Voraussetzung dafür war jedoch immer, niemanden durch Aussagen zu belasten.

Ralf Dreis, Athen