Wenn Streik zum Krieg wird - Arbeitskämpfe sind überholt. Die Macht der Gewerkschaften muss eingedämmt werden

Die Zeichen stehen - derzeit vor allem in Ostdeutschland - auf Streik.
Den Modernisierern in der Bundesregierung steht ein knallharter Gegner gegenüber: der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Kaum hatte der Kanzler seine weiß Gott nicht rabiaten Reformen angekündigt, riefen DGB- Chef Michael Sommer und ver.di-Chef Frank Bsirske: "skandalös!", "unmoralisch!", "Verrat!".


Schon im Februar hatte Sommer vor dem neoliberalen Sündenfall gewarnt: "Dann gibt es eine gesellschaftliche Gegenwehr, dass es knallt." So könnte sich immer noch bewahrheiten, was die Süddeutsche Zeitung am 7. Februar ein wenig alarmistisch ankündigte: "Wenn erst in der wärmeren Jahreszeit Großdemonstrationen gegen eine SPD-Regierung durchs Brandenburger Tor ziehen, wird Deutschland wirtschaftlich ein Stück näher am Abgrund stehen."

Ruppig wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik fahren DGB-Führer den gewählten Repräsentanten des Staates über den Mund und bestätigen damit jene, die im DGB heute den Hort der Traditionalisten und Blockierer orten, denen aufseiten der Modernisierer kein gleichwertiger Kontrahent gegenübersteht.

Was gibt den Gewerkschaften ihre Macht, obschon nur noch um die 20 Prozent der Beschäftigten bei ihnen Mitglied sind? Es ist vor allem die Drohung mit Streik. Die Zeit ist reif, diesen Schrecken zu bannen und die Rechtsgrundlagen des Streiks infrage zu stellen, auch wenn die Gewerkschaften aufheulen mögen.

Ermutigend, dass ein sozialdemokratischer Bundeswirtschaftsminister den Arbeitsplatz vernichtenden Streik der IG Metall in Ostdeutschland als einen "Konflikt zur falschen Zeit am völlig falschen Ort" und für ihn nicht mehr "nachvollziehbar" qualifiziert. Aber gegen die Institution Streik wagt auch er natürlich kein Wort zu sagen. Es ist jedoch überfällig.

Das Streikrecht wird aus Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz mit der Begründung abgeleitet: Zur Durchsetzung von Arbeits- und materiellen Wirtschaftsbedingungen seien als Ultima Ratio auch Kampfmittel notwendig. Zwischen den Polen Streik und Aussperrung entwickelte sich ein Kampfritual. Die am Arbeitskampf nicht beteiligte Bevölkerung, die oft, zumal bei einem Streik im öffentlichen Dienst, die gravierenden Folgen zu tragen hat, blieb dabei - vor lauter Tarifautonomie - bisher unberücksichtigt.

Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz schreibt aber nur die Koalitionsfreiheit fest: "Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet."

Seine politischen Wurzeln hat die Koalitionsfreiheit im Liberalismus des 19. Jahrhunderts. In der Verfassung der Paulskirche 1848 zunächst noch Programmsatz, dann in der Weimarer Reichsverfassung mit Grundrechtsqualität ausgestattet, erhielt dieses Grundrecht mit Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz eine Kraft mit Drittwirkung: Er greift in das Verhältnis zwischen Privaten ein.

Das Bundesverfassungsgericht stellte schon 1950 fest, die Koalitionsfreiheit diene der "im öffentlichen Interesse den Koalitionen übertragenen Aufgabe, im Verein mit dem sozialen Gegenspieler das Arbeitsleben zu ordnen und zu befrieden". Dem Einzelnen wird durch seine Mitgliedschaft in einer Koalition Schutz gegen Maßnahmen einer übermächtigen sozialen Gegenseite gewährt.

Ein Streikrecht hat der Parlamentarische Rat aber bewusst nicht in das Grundgesetz aufgenommen, weil etliche Mitglieder verlangten, dann müssten in letzter Konsequenz der politische Streik und der Streik im öffentlichen Dienst ausgeschlossen werden.

Der Gesetzgeber hat bis heute das Streikrecht nicht in Paragrafen gegossen. Er überließ dessen Entwicklung den Richtern des Bundesarbeits- und des Bundesverfassungsgerichts, obwohl gerade Karlsruhe ein Gesetz wiederholt angemahnt hat.

Das deutsche System hat in der Vergangenheit funktioniert. Die Gewerkschaften forderten - oft unter Streikandrohung - höhere Löhne, mehr Urlaub, weniger Arbeitszeit und andere materielle Verbesserungen der Arbeitsbedingungen - und bekamen sie von den Arbeitgebern. Auch der Gesetzgeber steuerte seinen Teil bei: zum Beispiel den Kündigungsschutz und soziale Leistungen allerlei Art.

Eine solche konfliktvermeidende Praxis ging so lange gut, wie die Wirtschaft lief, Erträge erzielt wurden und ansehnliche Gewinne verteilt werden konnten. Seit aber kein Geld mehr in den Kassen ist, seit Forderungen nur noch über den Abbau von Arbeitsplätzen oder über Kredite zu finanzieren sind, lässt sich die von den Gewerkschaften geförderte Besitzstandswahrung oder gar -mehrung kaum noch sozial rechtfertigen. Eine Gewerkschaft, die wie ver.di für den öffentlichen Dienst 4,4 Prozent Lohnerhöhung mit massiven Streikdrohungen und Warnstreiks erzwingt, obwohl Bund, Länder und Gemeinden bis zur finanziellen Bewegungslosigkeit überschuldet sind - eine solche Gewerkschaft ist nur noch Interessenvertreter einer einzigen Gruppe. Und ein Staat, der nachgibt, zeigt Angst vor einer verfassungsrechtlich nicht legitimierten Macht.

Seit 1954 verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass die Tarifautonomie im öffentlichen Interesse wahrgenommen wird, und das heißt: Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit steht in unauflösbarem Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes (Artikel 20 und 28). Der Zweck der Tariffreiheit ist danach - so das Bundesverfassungsgericht über all die Jahre - "eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens unter Mitwirkung der Sozialpartner in den sich aus dem Zweck ergebenden Grenzen". Aber auch das sagt das Bundesverfassungsgericht: "Die Tarifautonomie kann zum Schutz von Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden, denen verfassungsrechtlicher Rang zukommt."

Das Sozialstaatsprinzip besitzt verfassungsrechtlichen Rang. Desgleichen sind die Grundrechte von Betroffenen - Artikel 1 und 2 Grundgesetz - zu wahren. Somit hat das Ziel, Massenarbeitslosigkeit einzudämmen und das System der sozialen Sicherheit finanziell zu stabilisieren, in hohem Grade Gemeinwohlcharakter. Das heißt: Ein ständiges kategorisches Nein der Gewerkschaften zu allen anerkannt notwendigen Reformen des Arbeits- und Sozialrechts ist ein Missbrauch der Tarifautonomie.

Gerade jetzt ist der Gesetzgeber gefordert, ja, es ist seine Pflicht, endlich "die Tragweite der Koalitionsfreiheit zu bestimmen und zu regeln". Schon im Jahre 1981 sagte das Bundesverfassungsgericht: "Vielfältige gesetzliche Regelungen sind notwendig, die der Koalitionsfreiheit auch Grenzen ziehen können, um so mehr, als der Gegenstand der Gewährleistung auf sich wandelnde wirtschaftliche und soziale Bindungen bezogen ist, die mehr als bei anderen Freiheitsrechten die Möglichkeiten zu Modifikationen und Fortentwicklungen lassen müssen." Und im Jahr 2001 urteilten die höchsten Richter in der Auseinandersetzung um das Beschäftigungsförderungsgesetz: "Tarifpartner haben Normsetzungsbefugnisse, aber kein Normsetzungsmonopol."

Überdies: Die Gewerkschaften besitzen auch kein politisches Mandat. Sie haben selbstverständlich das Recht auf freie Meinungsäußerung wie jeder Bürger und jede andere Gruppe. Politischer Streik - daran sei erinnert - ist rechtswidrig und durch das Grundgesetz nicht gedeckt. Der fatale Streik des Druckgewerbes gegen das Betriebsverfassungsgesetz im Jahre 1952 hat die Gewerkschaften viel Geld gekostet. Sie mussten hohe Schadensersatzleistungen an die Verlage zahlen.

Streik ist eine Erscheinung des archaischen Rechts auf Selbsthilfe, das die Rechtsordnung zutreffend sonst nirgends mehr zulässt. Was rechtfertigt Selbsthilfe im Arbeitsrecht?

Für den öffentlichen Dienst differenzieren Rechtsprechung und Lehre erstaunlicherweise. Beamte haben anerkanntermaßen kein Streikrecht. Angestellten und Arbeitern wird es zugestanden - 1993 auch vom Bundesverfassungsgericht. Der Staat wird insoweit als privater Arbeitgeber betrachtet. Aber erfasst das wirklich den Kern des öffentlichen Dienstes? Hat der Staat als Arbeitgeber Fürsorgepflichten nur gegenüber seinen Beamten und nicht auch gegenüber seinen nichtbeamteten Arbeitnehmern? Und hat er nicht seinen Bürgern Daseinsvorsorge zu leisten? Ob hoheitlich oder privatwirtschaftlich organisiert, kann keinen Unterschied ausmachen. Arbeitskampf im öffentlichen Dienst ist Arbeitskampf gegen den Staat. Das heißt, er richtet sich - mittelbar und in der heißen Phase unmittelbar - gegen die Gemeinschaft der Bürger. Letzten Endes bedeuten Streik und Aussperrung Krieg. Der aber darf in einer zivilen Gesellschaft nicht sein. Was aber dann?

Für die privaten und öffentlich-rechtlichen Auseinandersetzungen gewährleistet der Staat den Rechtsweg. Warum tut er das nicht auch für den Arbeitskampf? Die Übermacht der Arbeitgeberseite gehört, wie die jüngste Geschichte zeigt, der Vergangenheit an. Ein von den Koalitionsparteien paritätisch besetztes Gericht mit einem frei bestimmten Vorsitzenden wäre keine unerlaubte Zwangsschlichtung. Damit würde vielmehr das letzte große Kampfgebiet der Gesellschaft in die rechtsstaatliche Friedensordnung eingebunden.

Der Gesetzgeber hat sogar eine Rechtspflicht, diese Friedensordnung zum Schutz des Staates und seiner Bürger auf die Arbeitswelt auszudehnen, also das Streikrecht zu begrenzen. Es ist erstaunlich und eigentlich nur mit der Angst vor den Gewerkschaften erklärbar, dass Lehre und Rechtsprechung hierzu noch keine Vorstellungen entwickelt haben.

Von Gisela Wild

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(c) DIE ZEIT 26.06.2003 Nr.27