Soziale Ungleichheit der Bildung – Bildung der sozialen Ungleichheit

Vom berauschenden Klang der Chancengleichheit

Auf den ersten Blick erscheint vielen die Forderung nach Chancengleichheit in der bildungspolitischen Debatte als lobenswert und progressiv. Klassischerweise betonen die Verfechter gleicher Bildungschancen für alle Gesellschaftsmitglieder ihre Rolle als Anwälte sozialer Gerechtigkeit und tadeln die vorherrschende Ungleichheit bei der Bildungsbeteiligung der sozialen Schichten als unverträglich mit dem gesellschaftlichen Demokratieanspruch. Jenseits aller demokratieidealistischen Rhetorik erweist sich der Anspruch auf Chancengleichheit jedoch als trügerische Fassade einer pervertierten Leistungs- und Konkurrenzideologie – mit einem verschrobenen Verständnis von sozialer Gerechtigkeit.

Nette Versuche

Seit den 60er Jahren kam es periodisch wiederkehrend zu Phasen in der bildungspolitischen Debatte, in denen das Thema Chancengleichheit den Achsnagel der Auseinandersetzungen bildete. Gerade in den 60ern gerieten die bestehenden Ungleichheiten hinsichtlich sozialer Herkunft, Geschlecht und Region in die öffentliche Kritik. Dies ging einher mit der Diagnose eines ökonomisch unzureichenden Ausmaßes von Bildung; und so wurde ein angebliches Gerechtigkeitsinteresse mit dem Ziel der Ausschöpfung von „Begabungsreserven” im wirtschaftlichen Interesse verbunden.
Folge war eine intensivierte Bildungsexpansion, die über die Jahrzehnte zwar die geschlechtsspezifische Ungleichheit und das Gefälle zwischen Stadt und Land anzugleichen vermochte, der zahlenmäßige Anstieg bei der Beteiligung von z.B. Arbeiterkindern in den höheren Bildungsinstanzen muss proportional dagegen als unwesentlich betrachtet werden. Ohne Zweifel stellte dies eine deutliche Verbesserung individueller Lebensmöglichkeiten dar, doch da die Bildungsexpansion insgesamt die Beteiligung aller Schichten erhöhte – ein Ergebnis, das nicht zu unrecht als „Fahrstuhleffekt” bezeichnet wird – änderte dies nichts an der herkunftsbedingten Ungleichheit.
Alle Maßnahmen in den folgenden Jahrzehnten, um diese Differenzen zu beheben, wie bessere Bezuschussungs- oder Betreuungsmodelle, blieben ebenfalls relativ fruchtlos und hatten lediglich prozentuale Mückenschisse in der Veränderung der Beteiligungsquoten zum Ergebnis.

Reproduktion der Ungleichheit

Ein häufig genanntes Motiv der Bildungspolitik war der Widerspruch zwischen offizieller Rhetorik und der sozialen Realität. Während der offizielle Anspruch besagt, die soziale Mobilität, also der Aufstieg aus den unteren sozialen Schichten in die höheren, müsse allein durch die Unterbeweisstellung seiner Fähigkeiten in den diversen Schulstufen gewährleistet werden, sprechen die tatsächlichen Verhältnisse eine andere Sprache: nämlich dass die soziale Herkunft tatsächlich ein entscheidender Faktor für die Möglichkeiten weiterführender Bildungsabschlüsse und damit des sozialen Aufstiegs ist. Wie bereits erwähnt, wurde versucht, dem mit verschiedenen Rezepten zu begegnen, ohne dass sich die Situation bis heute wesentlich geändert hätte. Die institutionalisierte Bildung stellt somit eine wesentliche Instanz bei der Reproduktion von Klassenverhältnissen und sozialen Milieus dar, was sich mit einem Blick auf die statistischen Realitäten bestätigen lässt.
Während im Elementarbereich noch keine Ausdifferenzierung nach sozialer Herkunft hinsichtlich der Beteiligung von 3- 8-jährigen festzustellen ist, entfaltet sich diese umso stärker zwischen dem Sekundarbereich I bis zur Hochschule. Obwohl die sogenannte „Oberschicht” noch nicht einmal 10 Prozent der Gesamtbevölkerung stellt, repräsentierte sie im Jahre 2003 37 Prozent der bundesdeutschen Studierendenschaft in den Hochschulen. Die „untere soziale Schicht”, der je nach statistischen Kriterien zwischen 30 und 40 Prozent der Gesamtbevölkerung zuzuordnen sind, war im selben Jahr mit nur 12 Prozent vertreten.
In anderen Zahlen ausgedrückt: 81 Prozent der Kinder aus der Herkunftsgruppe „hoch” erhielten im Jahre 2000 ihren Hochschulzugang, aus der Herkunftsgruppe „niedrig” dagegen nur 11 Prozent! (Siehe Bundesministerium für Bildung und Forschung [Hrsg.], Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der BRD 2003 [17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes], Berlin 2004.)
Diese Selektionsstatistiken zeigen nicht nur die Ausmaße von Schichtenrekrutierungen auf, sondern weisen auch auf die Gettoisierung von Schulzweigen hin, die wesentlich die Interaktion und Kommunikation zwischen den Schichten unterbindet und damit verschiedene Milieus und Wahrnehmungen der sozialen Realitäten schafft. Noch unbehandelt in dieser Darlegung sind die Bildungschancen von Migrantenkindern, die – das sollte erwähnt sein – eine eigene Kategorie bilden und sich ganz besonders drastisch darstellen.

Problem (v)erkannt

Lange Zeit waren diese Relationen nur eine Marginalie der öffentlichen Debatte, spätestens seit PISA und Agenda 2010 rappelt es aber wieder im Karton. Allerdings erhält das Ganze unter den Vorzeichen des Sozialabbaus, zu dem ebenfalls die selektiven Konsequenzen der neuen Bildungspolitik zählen, eine besondere Note: jetzt ist es weniger die energische Forderung nach Auflösung von Ungleichheiten, die den Kern der Debatte bildet, sondern das Bedenken, die sozialstaatlichen Umbaumaßnahmen könnten eine weitere Verschärfung der Verhältnisse herbeiführen. Und im Bewusstsein über dieses Problem sei man schließlich, bei aller Rigorosität dieser „notwendigen” Politik, darum bemüht, die „soziale Verträglichkeit” zu gewährleisten.
Die aktuellen Entwicklungen verweisen jedoch auf einen anderen Trend. In den 60ern und 70ern vollführte Reformen werden Zug um Zug zurückgenommen. Im Zusammenhang der allgemeinen Prekarisierung des Arbeitsmarktes können sich bereits jetzt viele trotz Jobbens kein Studium mehr leisten, während diejenigen, die auf den Nebenverdienst angewiesen sind, dank der Verschulung des Studiums immer seltener beides unter einen Hut bekommen. Die sich anbahnenden Studiengebühren drohen somit, große Teile der Bevölkerung auszuschließen, wogegen auch die Einführung eines Kreditsystems wenig helfen wird – Verschuldung ist nun mal keine erstrebenswerte Perspektive. Bereits jetzt haben die verschärften NC-Regelungen, die neuen Studiengänge und angedrohte Studiengebühren zu einer Reduzierung der Studierendenzahlen geführt: So wurden z.B. in Berlin im Wintersemester 2004/05 ca. 16 Prozent der freien Plätze nicht vergeben. Auch die Einführung von Elite-Schulen, die als Reaktion auf die „inflationäre Vermehrung” von höheren Bildungsabschlüssen durch die Bildungsexpansion verstanden werden muss, wird deutlich zur neuerlichen Ausdifferenzierung der sozialen Ungleichheit beitragen, indem sie den oberen Statusgruppen wieder das Monopol auf die Sprungbretter zur Belle Etage sichern werden.
Dennoch halten Bildungspolitiker an ihrem Anspruch fest, Chancengleichheit zu schaffen, sei Bedingung unserer Demokratie, wobei sie aber, sich hinter den politischen Notwendigkeiten verschanzend, darauf hinweisen, dass die ökonomischen Verhältnisse zur Zeit eben nicht mehr zulassen. Was sich darin ausdrückt, ist nicht nur das Eingeständnis, dass Bildungsungleichheit kein Resultat einer falschen bildungspolitischen Konfiguration ist, sondern gerade – insofern dies eine soziale Frage ist – integraler Bestandteil der kapitalistischen Ordnung.
Interessanterweise gab es in den Sozialwissenschaften einige Auseinandersetzungen über Bildungsungleichheit, die fast alle eines gemeinsam haben: sie verorten das Problem niemals auf der bildungspolitischen Ebene, sondern sehen seine Ursachen in sozialen Regulierungsabläufen. Während z.B. Humankapital- oder Integrationstheorien diese lediglich diagnostizieren und im allgemeinen die herrschenden Zustände bejahen, so legen gerade sozialkritische Ansätze nahe, wie Lösungsperspektiven aussehen: sie stellen die Systemfrage – Bildungsgleichheit, der Zustand gleicher Möglichkeiten zur Bildung, steht und fällt mit der sozialen Gleichheit.

Dilemma der Bildungspolitik

Im gesellschaftlichen Diskurs gilt die sozioökonomische Ordnung und damit die soziale Ungleichheit jedoch als gegeben und wird nicht in Frage gestellt. Sie ist angeblich legitimer Ausdruck der Leistungsgesellschaft, in der denjenigen mehr zusteht, die – nach kapitalistischen Maßstäben – mehr geleistet haben und scheinbar von größerem Wert für die Gesellschaft sind. Als erste und entscheidende Instanz dieser sozialen Ausdifferenzierung ist das Bildungssystem vorgesehen, die Menschen für die entsprechenden Positionen in der sozialen Hierarchie – gemäß Fähigkeiten und Kenntnissen – zu sortieren.
Im Rahmen dieser Konkurrenz- und Leistungsideologie lässt sich die allseits beschworene soziale Gerechtigkeit nicht über einen gleichen Zugang zu Ressourcen definieren (soziale Gleichheit), sondern lediglich über ein chancengleiches Leistungsprinzip, dem entsprechend die Selektion auf individuellen Begabungen und nicht auf sozialen Vorteilen beruht. Da aber gerade die soziale Lage entscheidend ist für die Ausgangssituation (aufgrund von finanzieller Lage, kultureller Güter, Vorbildung, Milieumentalität, häuslicher Lernbedingungen etc.), wird von der Bildungspolitik z.B. eine bessere Ausstattung des Elementarbereichs oder gezielte Förderung von ärmeren Kindern verlangt, um dadurch die „Defizite” schon frühzeitig auszugleichen. „Chancengleichheit besteht nicht darin, dass jeder einen Apfel pflücken darf, sondern dass der Zwerg eine Leiter bekommt”, wie es eine Arbeitsanweisung für Pädagogen so betörend zu illustrieren weiß (so Reinhard Turre, zitiert in: Detlef Träbert, Hausaufgaben sinnvoll gestalten. Hintergründe zum Thema und Tipps für Schule und Elternhaus, Köln 2002, S. 15).
Es benötigt keine große Sprungweite von Intellekt, um festzustellen, dass es sich hierbei niemals um mehr handeln kann als Augenwischerei. Die eine oder andere Maßnahme wird wohl dazu geführt haben, dass die Wirtschaft bisweilen ein wenig mehr Humankapital aus der gesellschaftlichen Menschenmasse verwerten konnte. Um jedoch nur tendenzielle Bildungsgleichheit zu schaffen, würde es annähernd gleicher sozialer Verhältnisse bedürfen. Und dies passt weder mit dem kapitalistischen Prinzip von Anreiz und Leistung zusammen, noch wäre es der Kapitalismus, der solche Zustände hervorbringt.

Zwei Seiten einer Medaille

Selbst am demokratieidealistischen Standpunkt und seinem Anspruch gemessen, haftet dem Chancengleichheitsprinzip ein bitterer Beigeschmack an. Die herkunftsbedingte Bildungsungleichheit zu attackieren und eine radikale Öffnung der höheren Bildungsinstanzen zu erzwingen, muss zwar Teil jedweden emanzipatorischen Prozesses sein, doch wer glaubt, mit Chancengleichheit würde soziale Gerechtigkeit einhergehen, orientiert sich an einem Gerechtigkeitsmodell, das sich auf das ebenbürtige Konkurrieren um die strukturell bestimmten Rollenzuweisungen in Staats- und Wirtschaftorganen beschränkt.
In dieser Vision vollzieht sich soziale Mobilität unabhängig der sozialen Herkunft, die Klassenstruktur selbst bleibt aber bestehen und legitimiert sich über Rekrutierungsprozesse, die sich auf rein biologistische Leistungskriterien stützen (siehe hierzu Bildungssyndikat Leipzig, „Bildung von Gleichheit. Über den Standortfaktor Humankapital”, Direkte Aktion, Nr. 167, Jan./Feb. 2005). „Dumme” Menschen gehören demnach wie selbstverständlich in den Bereich der Handarbeit, während „exzellente” Persönlichkeiten ein Anrecht auf Prestige, Macht und Wohlstand haben – eine legitime Elite zum Wohle der Gesellschaft und zur nationalen Effizienz (so in etwa Klaus K. Urban in: „Hochbegabtenförderung und Elitenbildung“, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10/2004, 1. März 2004).
Wie dem auch sei, in jeglicher Hinsicht ist die Debatte um Chancengleichheit eingebettet in die vorherrschenden Kategorien von sozialer Ungleichheit, aus denen heraus keine Chancengleichheit erwachsen kann. Sie kann deshalb nur als Scheindebatte verstanden werden, die der Artikulation gerechter Gesellschaftskonzepte im Wege steht, weil sie vorgaukelt, soziale Gerechtigkeit ließe sich im Kapitalismus herstellen.
Die Realisierung gleicher Bildungsbeteiligung und -chancen ist eine essentielle Frage der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung. Bleiben die Maßnahmen auf die Ebene der Bildungspolitik verhaftet, handelt es sich allenfalls um kosmetische Handhaben, die zwar Ungleichheiten mehr oder minder gut zu kaschieren vermögen und der bestehenden Ordnung ein scheinbar höheres Maß an Legitimität verleihen, doch die generellen sozialen Ungleichheiten, in denen die unterschiedlichen Bildungsmöglichkeiten tatsächlich wurzeln, gelten als unverrückbar. Chancengleichheit im Kapitalismus ist und bleibt Illusion – ihre Huldigung rhetorische Besoffenheit.

Holger Marcks (Bildungssyndikat Berlin)

aus: Sonderbeilage der Direkten Aktion, Herbst 2005.