Einsicht in die Notwendigkeit

Ziel und bisherige Vorgänge des „Bologna-Prozesses“, der auf der EU-Bildungsministerkonferenz (Berlin, 18.-19. September 2003) weiter geplant wurde, sollen im folgenden erläutert werden.

Bologna. Das ist nicht nur die Stadt der wohl berühmtesten Spaghetti. In dieser Stadt nahmen im Juli 1999 auch die Vorstellungen von einem einheitlichen europäischen Hochschulraum erstmals Gestalt an. In einer Erklärung (1) betonten die EU-Bildungsminister die Notwendigkeit, den Rückstand auf die USA in Sachen Investitionen und Gaststudierender bis 2010 aufzuholen. Die EU als größter Wirtschaftsraum der Erde (2) braucht auch einen gemeinsamen Hochschulraum – in dem „Wissen produziert“ wird.



Bisher beteiligen sich 33 Staaten und internationale Institutionen an dem Projekt – darunter befinden sich die EU-Staaten, die Beitrittsländer von 2004, die Staaten des Europarates und die EU-Kommission. Die Beteiligung am Bologna-Prozess, der gern als „freie Vereinbarung“ dargestellt wird, ist nicht vertraglich geregelt und also nicht einklagbar – aber sie ist politisch bindend. Das Damokles-Schwert der Niederlage im internationalen Wettbewerb erlaubt den politischen Entscheidungsträgern keine Abweichung. So sind sie gefangen von dem Teufel, den sie selbst an die Wand malten, um ihr Projekt zu rechtfertigen. Zusammengehalten aber von scheinbaren Sachzwängen und von nicht mandatierten Stellvertretern ist der Bologna-Prozess alles andere als eine freie Vereinbarung! Die Reformen zielen nämlich zuallererst auf einen europäischen Arbeitsmarkt – die Universität als Trainingslager für die Lohnsklaverei.



Kernpunkt der „Strukturreformen“ für einen „wettbewerbsfähigen und dynamischen Hochschulraum“ ist die Zweiteilung des Studiensystems. Mit der Einführung von Bachelor (BA)- und Master (MA)-Studiengängen wird diese Teilung in „berufsqualifizierende“ und „akademische“ Bildung hierzulande bereits vorgenommen. Mit Hilfe eines Leistungspunktsystems (ECTS) soll eine internationale Vergleichbarkeit des Studiums garantiert werden. Suggeriert wird in diesem Zusammenhang, dass dadurch die persönlichen Chancen auf dem (inter-)nationalen Arbeitsmarkt steigen. Entsprechend positiv sind die Reaktionen der Studierenden: 1999 waren erst 0,4 Prozent (6.700) in BA/MA eingeschrieben – zwei Jahre später waren es bereits 2,1 Prozent (39.000). In Deutschland wurden diese Neuerungen maßgeblich von der Hochschulrektorenkonferenz initiiert. Wie bereits erwähnt, bestehen mit den BA/MA-Studiengängen und der ECTS-Zertifizierung schon wichtige Bestandteile der neuen Bildung. Die Zertifizierung ist notwendig, um das Baukastensystem von BA/MA umzusetzen und die Hochschulen in Konkurrenz zueinander zu setzen – nicht nur in Forschung und Lehre, sondern auch bei der finanziellen Ausstattung über Drittmittel. Durch eine externe Bewertung jeder einzelnen Hochschule soll ihre Qualität gesichert werden. Nach welchen Maßstäben gewertet wird, läßt sich leicht buchstabieren: Rentabilität für Investoren und „beste“ Chancen für Studierende. Die Reformen ändern zwar prinzipiell nichts an der Branche, sie erhöhen allerdings den unmittelbaren ökonomischen Druck auf die (unfreien) Akteure im Bildungswesen.



Die Initiative und die Verantwortung für den Umbau liegt bei den Hochschulen selbst. Positiv zu verbuchen sind dabei eine erleichterte Mobilität der Studierenden (die sich das leisten können) und eine intensivere Zusammenarbeit der Hochschulen in Europa. In modernen Zeiten wird oft und gern auf die Freiwilligkeit und Autonomie der einzelnen Akteure, besonders der Hochschulen und der Studierenden hingewiesen. Eine „Autonomie“ wie sie in den Verhandlungen um den sächsischen Hochschulkonsens bestanden hatte. (siehe Kasten) Aber sie spielen mit: Die beteiligten und verantwortlichen Hochschulen haben sich 2001 eigens für „Bologna“ zusammengeschlossen in einer European University Association (EUA). Auf ihrem letzten Gipfel in Graz (Mai 2003) stellte die Europäische Vereinigung der Universitäten folgende Forderungen an den politisch verbindlichen Prozess:



- Wahrung der Chancengleichheit und des „demokratischen“ Hochschulzugangs,

- Erhalt europäischer Eigenheiten – Bildung als öffentliche Angelegenheit – und der

- Verbindung von Forschung und Lehre,

- Gewährleistung der Qualitätssicherung.



Die Studierendenvertretungen begrüßen ebenfalls die europaweite Initiative zur Reform und versprechen sich von der „Internationalisierung“ eine Verbesserung der studentischen Lebens- und Lernsituation. Sie warnen zugleich vor einer „Verschulung des Studiums“. In dem Maße aber, wie sich beide Akteure – Hochschulen und Studierende – zum obersten Ziel, zur arbeitsmarktgerechten Ausbildung bekennen, sind alle Bedenken und Vorbehalte nichts als Schall und Rauch. Denn was „der Arbeitsmarkt benötigt“ liegt außerhalb ihrer Kompetenzen, das Bildungswesen ist und wird abhängig bleiben von den Forderungen des Kapitals.



Die etablierten Institutionen beweisen damit wiederholt ihre Unfähigkeit, der bewusst betriebenen Politik der Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen eine Absage zu erteilen. Der EU geht es um „arbeitsmarktrelevante Qualifikationen“ und „internationale Wettbewerbsfähigkeit“, nicht um die Bildung bewusster, mündiger Persönlichkeiten. Das bedeutet nicht nur eine geistige Verarmung der Bevölkerung, sondern auch eine Prekarisierung der Lehrberufe. Von Studierenden und Lehrenden werden „Mobilität“ und „lebenslanges Lernen“ gefordert - also die Bereitschaft, sich fortwährend den ändernden Ansprüchen des Kapitals anzupassen. Hinter den schönen Worten verbirgt sich Rationalisierung auf (fast) allen Ebenen – der menschliche Faktor als Kostenfaktor soll minimiert werden. Was bleibt, ist die funktionale Sachkenntnis mit zwingender Relevanz auf dem Arbeitsmarkt – das Gehirn ist nicht mehr als die Hardware.



So neu ist diese Perspektive allerdings nicht. Schon 1776 schrieb A. Smith: „die gesteigerte Geschicklichkeit eines Arbeiters [läßt sich] als eine Art Maschine oder Werkzeug betrachten, die die Arbeit erleichtert oder abkürzt, und die, wenn sie auch Ausgaben verursacht, diese doch mit Gewinn zurückzahlt.“ (3) Diese sehr spezielle Sicht auf „Bildung“ – Bildung als Kapital – hat sich in unserer Gesellschaft schon weitgehend durchgesetzt, wie an den Reaktionen der Studierenden auf die BA/MA ablesbar ist. Immer weiter verdrängt wird die Anschauung von Bildung, die den Menschen in die Lage versetzt, die Welt besser zu verstehen und zu gestalten.





Anmerkungen:

1) Bologna-Erklärung unter http://www.bologna-berlin2003.de/pdf/bologna_deu.pdf

2) Das Gesamtvolumen des Güterhandels in Westeuropa übertrifft mit 2.441 Milliarden Dollar das Nordamerikas (1.058 Mrd.) und Asiens (1.649 Mrd.).

3) A. Smith: „Der Wohlstand der Nationen“. Zitiert nach E. Ribolits: „Wieso sollte eigentlich gerade Bildung nicht zur Ware werden?“, in Streifzüge 2/2003, Wien, zugänglich in der libertären Bibliothek (Libelle, Kolonnadenstr. 19, 04109 Leipzig)

Autonomie beim Hochschulkonsens

Das sächsische Kultusministerium beschloss Einschnitte im Budget der Universitäten, denen soll im verbleibenden Rahmen bis 2010 "Planungssicherheit" gewährt werden. Der Vertrag zwischen Hochschulen und Regierung, der sogenannte "Hochschulkonsens", dem der Senat der Uni Leipzig am 5. Juli 2003 zustimmte, kann nur von der Regierung, nicht aber von den Hochschulen gekündigt werden. Die Autonomie der Bildungseinrichtungen besteht nun darin, selbst zu sehen, wo sie kürzen.