ZEIT ONLINE: Herr Kuhnt, Frau Ergazina, Sie bezeichnen sich als Anarchosyndikalisten und engagieren sich in der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU), einer linken Gewerkschaft. Welche Ziele verfolgt diese Gewerkschaft?

Stefan Kuhnt: Wir engagieren uns im Berliner Syndikat und machen basisdemokratische Gewerkschaftsarbeit auf libertärer Grundlage. Bei uns entscheiden die Mitglieder selbst, wofür sie sich einsetzen, nicht irgendwelche Funktionäre. Und wir verbinden das mit einer antikapitalistischen Perspektive.

ZEIT ONLINE: Was heißt das konkret?

Kuhnt: Kurzfristig wollen wir wie alle Gewerkschaften höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Mittelfristig wollen wir das Konzept einer kämpferischen Basisgewerkschaft wieder salonfähig machen, das in Ländern wie Frankreich, Italien und Spanien selbstverständlicher ist. Und langfristig ist unser Ziel, den Kapitalismus abzuschaffen und durch eine solidarische, freiheitliche, basisdemokratische Gesellschaftsordnung zu ersetzen. Aber für unsere alltägliche Arbeit spielt das zunächst keine große Rolle.

ZEIT ONLINE: Was unterscheidet Ihre Basisgewerkschaft von herkömmlichen Gewerkschaften wie etwa ver.di oder IG Metall?

Tinet Ergazina: Wir verstehen uns nicht als Dienstleister. Unsere Mitglieder bestimmen selbst, was sie wollen und wie sie das erreichen können.

Kuhnt: Große Gewerkschaften denken oft wie Unternehmen, weil sie einen großen Apparat unterhalten müssen. Oft lohnt es sich für die einfach nicht, sich in kleineren Arbeitskonflikten zu engagieren.

ZEIT ONLINE: Die FAU Berlin hat sich in der Auseinandersetzung um den Bau der Mall of Berlin engagiert, als rumänische Arbeiter um ihren Lohn geprellt wurden.

Kuhnt: Das ist ein typisches Beispiel für unsere Arbeit. Die Arbeiter hatten sich zunächst an das Berliner Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte des DGB gewandt. Mehr als ein paar Schreiben an die verantwortlichen Unternehmen ist dabei aber nicht herausgekommen. Das soll kein Vorwurf an das Beratungsbüro sein, das macht respektable Arbeit, aber es ist eben nur ein Beratungsbüro mit vier Mitarbeiterinnen und nicht darauf ausgelegt, große gewerkschaftliche Aktionen zu starten – erst recht nicht für Arbeiter, von denen der DGB nie Geld sehen wird.

Die Bauarbeiter sind dann zu uns gekommen. Wir haben Aktionen gemacht. Das Thema kam in die Medien, die Linkspartei hat es aufgegriffen und bis in den Bundestag getragen. Und die FAU hat gemeinsam mit den Bauarbeitern Klage gegen die verantwortlichen Unternehmen eingereicht. In den Medienberichten taucht aber vor allem der DGB auf.

ZEIT ONLINE: Stört Sie das?

Kuhnt: Ja und nein. Natürlich ist es blöd, aber es ist auch nichts, weswegen ich nachts nicht schlafen könnte.

ZEIT ONLINE: Der DGB wirft Ihnen vor, keine echte Gewerkschaft zu sein. Fehlt Ihnen die Tariffähigkeit?

Kuhnt: Das stimmt nicht. Im Unterschied zu Branchengewerkschaften schließen wir als Allgemeines Syndikat keine Branchenverträge, sondern nur Haustarifverträge ab.

ZEIT ONLINE: In der Tradition des Anarchosyndikalismus ist Sabotage ein legitimes Mittel im Arbeitskampf. Bei Ihnen auch?

Ergazina: Sabotage kann schon eine kleine Aktion sein, zum Beispiel dass man bei einem Arbeitskonflikt in einer Restaurantküche die Zwiebeln verschwinden lässt, damit kein Essen zubereitet werden kann.

ZEIT ONLINE: Wie eng ist die FAU in linksextreme Strukturen und Netzwerke eingebunden?

Kuhnt: Die FAU Berlin legt Wert auf ihre Unabhängigkeit, deshalb haben wir  keine wirkliche Einbindung in linke Bündnisse oder irgendeine linke Szenepolitik.

ZEIT ONLINE: 2011 tauchte die FAU in einem Bericht des Verfassungsschutzes auf. Da heißt es, das Engagement für Arbeitnehmerinteressen sei vorgeblich und rein ideologisch motiviert.

Kuhnt: Das ist Schwachsinn und ziemlich arrogant ist es auch. Aber mal ehrlich, ist der der Verfassungsschutz eine besonders zuverlässige und vertrauenswürdige Institution?

ZEIT ONLINE: Sind die Berührungsängste mit anarchosyndikalistischen Gewerkschaften in Deutschland besonders groß?

Kuhnt: In Frankreich gibt es zum Beispiel ein liberaleres Arbeits- und Streikrecht, auch wenn sich das langsam ändert. Da können schon zwei Leute streiken. Außerdem gibt es eine breitere Gewerkschaftslandschaft und -kultur. Das ist auch in Spanien und vor allem in Italien so, wo seit langer Zeit ganz unterschiedliche Arten von antikapitalistischen Gewerkschaften existieren.

ZEIT ONLINE: Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise ist Kapitalismuskritik wieder populär. Aber anarchosyndikalistische Positionen dringen kaum in die Öffentlichkeit vor. Woran liegt das?

Ergazina: Vielleicht daran, dass wir mehr Gewerkschaftsarbeit betreiben und weniger Ideenpolitik.

Kuhnt: Ich glaube, eine gewerkschaftliche Kapitalismuskritik ist konsequenter als eine rein politische, weil sie da ansetzt, wo Kapitalismus stattfindet, nämlich im Arbeitsalltag.