"Wilder Streik" ein Kündigungsgrund?

In das deutsche Streikrecht kommt Bewegung! Das Arbeitsgericht Berlin hält die Kündigung eines Riders der Gorillas wegen der Teilnahme am "wilden" Streik für unwirksam. In der Entscheidung weist das Gericht darauf hin, dass es keineswegs gesichertes Recht ist, dass mit dem Aufruf zum "wilden" Streik ein Verstoß gegen die arbeitsvertraglichen Pflichten begangen wird.

Verfasst von Rechtsanwalt Martin Bechert 30. April 2022 · Aktualisiert: 1. Mai 2022

Streikrecht

Urteil zum sogenannten „wilden Streik“

Am 07.03.2022 hat das Arbeitsgericht Berlin – 19 Ca 10127/21 – entschieden, dass die fristlose Kündigung eines Riders (Lieferfahrers) unwirksam ist. Der Lieferdienst Gorillas hatte den Rider gekündigt. Anfang Oktober 2021 hatte dieser eine Abstimmung über einen Streik initiiert. Nachdem sich die Mehrheit der Arbeitnehmer für einen Streik ausgesprochen hatte, forderte der Rider seine Kollegen auf zu streiken. Diesem Aufruf folgten einige seiner Kollegen. Auch der Rider legte seine Arbeit nieder. Eine Gewerkschaft war an dem Arbeitskampf nicht beteiligt. Deshalb handelte es sich um einen sogenannten „wilden Streik“.

Streik – Forderung: Korrekte Gehaltszahlung!

Hintergrund des Ausstandes waren Gehaltsrückstände und unregelmäßige Zahlungen des Gehalts. Ohne Erfolg hatten sich die Streikenden zuvor an den sogenannten „Rider Support“ gewendet – einer unternehmensinternen Hotline. In dieser Situation sahen die prekär Beschäftigten nur noch die Möglichkeit, ihre Arbeit zu verweigern, um ihre Rechte effektiv durchzusetzen. Sie wollten eine Zusage der Gorillas, dass das Gehalt korrekt gezahlt wird. Sie legten die Arbeit nieder, ohne dass eine Gewerkschaft zu dem Arbeitskampf aufgerufen hat.

Postfaschistische Rechtsprechung zum Streikrecht ist Geschichte

Nach einer uralten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aus den 50er Jahren rechtfertigt die Teilnahme an einem sogenannten wilden Streik – jedenfalls nach Abmahnung – den Ausspruch einer fristlosen Kündigung. Die Gorillas haben sich im Verfahren auf diese Rechtsprechung berufen. Das Arbeitsgericht Berlin hat nun im Urteil darauf hingewiesen, dass die Rechtslage keineswegs eindeutig ist. Die alte Rechtsprechung, nach der die Teilnahme an einem „wilden Streik“ einen Kündigungsgrund darstellt, kann nach Auffassung des Gerichts auf die heutige Rechtslage angesichts europarechtlicher Vorschriften nicht mehr ohne weiteres übertragen werden.

Die Rechtmäßigkeit des „wilden Streiks“ ist eine offene Rechtsfrage

Das Arbeitsgericht hat im Urteil darauf hingewiesen, dass das deutsche Streikrecht nicht kodifiziert ist und somit auch die propagierte Notwendigkeit, dass ein Streik gewerkschaftlich organisiert sein muss, keine gesetzliche Grundlage hat. Dementsprechend werde in der Literatur die Auffassung vertreten, dass das ganze Spektrum von Handlungsmöglichkeiten des Arbeitskampfes, einschließlich des Rechts zum Streik, nicht nur jeder Gewerkschaft, sondern auch jeder gemeinsam handelnden Arbeitnehmergruppe zustehe. Artikel 28 EU-GRC schütze auch den verbandsfreien, sogenannten „wilden Streik“.