Castortransport: Wissen was zu tun ist

Der nächste Castortransport steht im November 2005 vor der Tür. Die DIREKTE AKTION bringt in der aktuellen Ausgabe (Nr. 172) deshalb ein Hintergrund-Interview mit Francis Althoff und Dieter Metk von der Bürgerintitiative Lüchow-Dannenberg, das wir hier dokumentieren. Es geht um Widerstandskutur im Wendland, die Geschichte und Perspektive der Castor-Blockaden, den Tod von Sebastien Briat und die Bedeutung des Castor-Widerstands für die Zivilgesellschft in der BRD.

Gegen den atomaren Irrsinn und für ein selbstbestimmtes Leben. Widerstandskultur im Wendland.

Das Wendland scheint mir eine recht besondere ländliche Region zu sein. Kann man sagen, dass hier eine Art alternativer Biotop entstanden ist?

Francis: Biotop ist auf jeden Fall ein hinkender Begriff, weil ein Biotop dadurch weiter existiert, dass er in Ruhe gelassen wird. Und wir werden hier nunmal nicht in Ruhe gelassen. Hier sind permanente Störungen über Castor-Transporte. Jetzt hatten wir gerade wieder mal Hausdurchsuchungen in den Redaktionsräumen der „Anti-Atom_aktuell“. Aber auf der anderen Seite: Hier im Wendland ist die höchste Dichte an Bio-Bauern in Deutschland, hier ist auch die höchste Dichte an Seminar- und Tagungshäusern, die auch für einen sozusagen alternativen Bereich ein Bedeutung haben. Man kann schon sagen, dass hier eine höheres Maß an Umweltbewußtsein oder politischem Bewußtsein existiert.

Dieter: Und es entwickelt sich immer wieder Neues, andgeregt durch Einflüsse von außen. Das ist tatsächlich so. Da sind neue Ideen ins Wendland gebracht worden, egal ob kultureller Art oder im Bereich beispielsweise regenerativer Energien. Vor fast 10 Jahren ist hier die Idee aufgekommen, das Wendland zu einer 100% Regenerativ-Region zu machen. Und da sind wir schon ein gutes Stück voran gekommen. Hier werden sehr viel „spinnerte Ideen“ in die Praxis umgesetzt. Hat nur den Nachteil, dass die Leute, die diese Ideen umsetzen, hier kaum den Nutzen davon haben. Profitieren tun Leute von außerhalb.

Sag mal ein Beispiel...

Dieter: Die Windenergie. Hier wurde die erste Windanlage des Wendlands gebaut. Die wurde genau an dem Tag in Betrieb genommen, als der zweite Castor-Tranport kam. Was auf der einen Seite ein Symbol war und vielen Menschen wieder Power gegeben hat. Auf der anderen Seite konnte sich die Windenergie nicht so entwickeln wie gewünscht, weil dann plötzlich die großen Unternehmen hier ins Wendland eingefallen sind, als sie gehört haben, hier werden bestimmte Vorranggebiete für Windenergie ausgewiesen, und mit den 20.000-DM-Scheinen gewedelt haben. Dadurch wurden die erforderlichen Flächen von den Landwirte in Besitz genommen, so dass für eine Entwicklung von bürgernaher Windernergie kein Raum mehr war.
Derzeit gibt es auch Diskussionen um alternative Verkehrskonzepte. In einer weitflächigen Region ist der Transport ein ganz schwieriges Kapitel. Dazu kommt die Entwicklung der Spritpreise und Hartz IV. Viele Menschen sind dadurch ausgegrenzt, weil sie in ihrer Kommunikation eingeschränkt sind.

Francis: In der Stadt hast Du einfach mehr Chancen von A nach B zu kommen.

Dieter: Der Landkreis hat 1000 km² Fläche und nur 50.000 Einwohner. Da sind 330 Dörfer. Es gibt einige wenige Buslinien, die nur die Marginalien abdecken. Ansonsten bist Du aufs Auto angewiesen oder auf jemanden, der Dich mitnimmt. Das ist ein Riesenproblem.
Dann gibt es noch solche Initiativen, die aus dem Wendland wirken und ihre Basis im Widerstand haben, auch wenn sie nicht explizit „politisch“ rüberkommen. Wie die „kulturelle Landpartie“ - ein Event zwischen Himmelfahrt und Pfingsten, das Jahr für Jahr über 20.000 Menschen hierher lockt.

Francis: Die „kulturelle Landpartie“ war entstanden, um dem Bild vom Wendland als Hort der Chaoten und Protestler etwas entegegen zu halten. Um zu sagen: Kommt mal her, das machen wir sonst noch hier. Das sind Tage der offenen Tür im Landkreis. Überall wo sich jemand regt, künstlerisch oder sonstwie aktiv ist, sind Ausstellungen.

Dieter: Das Konzept wird auch schon von anderen Regionen versucht abzukupfern. Es zeigt auch: Hier sind nicht nur irgendwelche Politfreaks eingewandert, sondern auch Künstler oder hochqualifizierte Wissenschaftler. Die Mischung ist schon sehr einmalig. Die reine Zahl ist allerdings so gering, dass es mir schwierig erscheint, weitere wirtschaftliche Prozesse in Gang zu bringen.

Du sagst der Biotop müsse in Ruhe gelassen werden, um zu gedeihen, Francis, aber was die Alternativ- und Widerstandskultur angeht, ist es doch so, dass sie dadurch am Leben bleibt, weil der Landstrich in den Medien ist, weil er populär ist und ständig was passiert. In anderen Regionen ist der Widerstand doch ziemlich abgeebbt und damit auch der Biotop versandet, um im Bild zu bleiben...

Francis: Ich glaube, das ist so ein allgemeiner gesellschaftlicher Traum. Das Wendland steht symbolisch auch für eine Sehnsucht. Die Menschen, die aus der Stadt hier her kommen, kriegen mit, dass von der Oma bis zum Enkel alle mit dabei sind. Dass ist ein Gefühl von einer großen Familie. Das hat man in den Städten nicht unbedingt. Hier geht es auch um das Erleben basisdemokratischer Strukturen. Deshalb - nicht nur wegen der Atomenergie - finde ich es wichtig hier weiter zu machen.

Dieter: Wobei es auch Konflikte gibt, die sich ganz massiv entwickeln. Wieder am Beispiel Windanlagen. Zuerst wurden sie begrüßt, jetzt fühlen sich einige auch aus dem Widerstand bedroht, durch z.B. den Schattenwurf der Windanlagen, der auf ihr Grundstück fällt. Oder in einem anderen touristischen Ort, Nemitz, da wollen örtliche Bauern eine Biogasanlage bauen und vor allem Zugezogene wehren sich, weil ihr schönes Dorf dadurch gestört wird, dass ein- bis zweimal am Tag Trecker oder LKW durch fahren werden, um Nachschub für die Biogasanlage zu bringen. Es sind zum Teil auch absurde Konflikte, die in dieser Region hier aufbrechen.

Wie würdet ihr die Entwicklung beschreiben, die der Landkreis Lüchow-Dannenberg in den letzen 30 Jahren genommen hat?

Dieter: Im Grunde genommen war dieser Landkreis schwarz-braun, kann man sagen, bevor die ganzen Konflikte um Gorleben sich entwickelten. Im Zusammenhang damit, hat sich das Bewußtsein der Beteiligten entwickelt. Das hat zum Teil lange gedauert. Aber man muss mal eins festhalten: Was ist hier überhaupt passiert und was ist hier verhindert worden? Das ist eigentlich wahnsinnig viel. Ursprünglich sollte Mitte der 70er Jahre hier in Langendorf an der Elbe ein Atomkraftwerk gebaut werden sollte. Da kamen die ersten Menschen hier aus der Region ins Grübeln: Moment, das geht doch so nicht. Außerhalb des Wendlands war das gar nicht groß bekannt. Und daraus haben sich die Vorläufer der Bürgerinitiative (BI) gegründet. Als dann auch noch ein riesiges dieses nukleares Entsorgungszentrum diskutiert wurde, kam die Eigendynamik langsam voran.

Und es ist historich betrachtet, ein Erfolg, dass hier „nur“ ein Atommüll-Lager entstanden ist, meint ihr, weil eigentlich ein viel größer dimensioniertes Projekt hoch gezogen werden sollte?

Francis: Das ist sogar zweimal passiert. In Gorleben sollte Ende der 70er Jahre eine Wiederaufbereitungsanlage entstehen. Das musste wegen des Widerstandes aufgegeben werden. Ein paar Jahre später war das Gleiche nochmal in Dragahn, 30 km von Gorleben entfernt, geplant. Das haben wir auch verhindern können. Das geplante AKW Langendorf hat Dieter schon erwähnt. Und die erste Castor-Einlagerung konnten wir zumindest 13 Jahre aufschieben. Über Widerstand, über Gerichtsverfahren und Klagen. Das sind alles Sachen, die wir als Erfolge werten. Inklusive des Jetzt-Zustandes. Der erste Transport nach Gorleben brachte einen Behälter. Der zweite bestand aus drei Behältern. Jetzt werden immer gleich zwölf Behälter gefahren. Das ist auch eine Reaktion auf den Widerstand. Die haben gemerkt, dass es so einfach nicht ist, einen nach dem anderen zu bringen. Dass der Widerstand nicht abebbt. Man kriegt mit, dass die Gegenseite reagieren muss.

Dieter: Der wichtige Punkt ist, dass der Widerstand noch soviel Dynamik hat, dass er nach dem zweiten und dritten Transport nicht zusammen gebrochen ist. Er läuft weiter und es gibt z. T. schon routineähnliche Ansätze. Dass nicht mehr ewig lang vorbereitet wird, sondern dass die Menschen aus der Region einfach wissen, was sie zu tun haben. Man wundert sich manchmal und denkt ein paar Wochen vor dem Transport, Mensch da tut sich nix, das gibt´s keine Treffen usw. und dann innerhalb von einer Woche funktioniert alles wieder wie eh und je, chaotisch, aber fast perfekt.

Das birgt natürlich auch eine Gefahr in sich. Was Du sagst, entspricht in etwa dem Verhalten der KölnerInnen vor Karneval. Für sich oder mit Freunden und Familie nähen alle an ihren Kostümen und wenn das Trömmelche geht stehen sie alle wieder parat. Das ist sehr schön. Aber es birgt in dieser Ritualisierung auch ein Abfinden mit der Realität. Man macht, was man immer macht. Das tut auch - im Wendland - auch die Gegenseite, der Staat, und so droht es vielleicht auf ein Nullsummenspiel hinaus zu laufen...

Francis: Da stecken auch Erfahrungswerte hinter. Beim ersten mal haben wir drei bis vier Monate vor dem Transport angefangen zu demonstrieren. Wenn Du über die Jahre mitkriegst, dass es wenig nützt und sich auch über die Medien wenig verbreitet, dann verlieren viele ihr Interesse und fangen erst kurz vor knapp an. Aber das mit Hand und Fuß. Da hat jeder für sich einen Plan.

Gibt es noch ein konkrete Hoffnung, mal einen Transport zu verhindern?

Dieter: Man weiß nie, was passiert. Auf der anderen Seite müssen wir auch ehrlicher Weise sagen: So richtig große Ideen haben wir nicht. Wir können nicht alles immer noch toppen - wie es vor allem die Medien gerne hätten. Immer höher, immer weiter. Das ist nicht Sinn der Sache. Die Botschaft ist vielmehr: Egal wie, egal wie oft - an uns kommt ihr nicht vorbei. Auch wenn der Medientross in den vergangenen Jahren immer kleiner wurde und wir schon von Journalisten angesprochen wurden: Ihr müsst mal sehen, dass wieder was passiert. Sonst können wir nicht immer mit so vielen Journalistenkollegen kommen, auch wir müssen auch sparen. Was vor zehn Jahren für die Journaille noch eine Riesensensation war, ist heute völlig uninteressant geworden. Wenn wir daran denken, dass es auch beim letzten Transport im vergangenen November möglich war, den Castor in Frankreich zu stoppen, und dass auch die Transporte in die Wiederaufarbeitung mehrfach gestoppt worden sind, ist es höchst verwunderlich, dass das kaum bekannt wurde. Selbst der fürchterliche Tod von Sébastien Briat (*2) am 7. November 2004 in Frankreich hat die Medien nur interessiert, weil es eine gewisse Sensation war. Dass der Transport vorher in Frankreich schon gestoppt wurde, ist dabei völlig untergegangen. An dieser Stelle muss man aufpassen, dass man nicht den Erfolg oder Misserfolg am breiten Echo misst.
Auf der anderen Seite ist es einfach so: Hier besteht noch die Möglichkeit, wirklich aktiv zu werden. Nehmen wir mal eine Bauplatzbestzung bei einem x-beliebigen AKW, das hat eine gewisse Zeit eine Bedeutung, aber irgendwann ist der Widerstand an dieser Stelle möglicherweise
gebrochen, das AKW ist gebaut und da gibt´s dann wirklich nur noch die Rituale wie z..B. in Brokdorf, dass sich da regelmäßig zwei Hände voll Menschen treffen. Ist ja auch o.k. Bei den Castortransporten hier hat man aber immer noch eine Chance, persönliche Erfolgserlebnisse zu haben, die die Kraft wieder stärken.

Francis: In der BI geht es außerdem nicht nur um Demonstrationen. Das ist eine von drei Säulen. Die anderen, die eher unseren Alltag bestimmen, sind die Juristerei, also das Durchfechten von Klagen und die Öffentlichkeitsarbeit, also Broschüren, Plakate, Flugblätter, Pressearbeit. Demonstrative Aktionen kommen für eine gemeinnützige Bürgerinitiative vielleicht erst an dritter Stelle. Wo bei historisch klar war, dass man durch Aktionen manchmal mehr Gehör findet. Aber man muss die alltägliche Arbeit machen. Auch die juristische Nachbereitung der ganzen Ordnungswidrigkeiten gehört dazu, ebenso wie eine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Wir sind eine Art alternativer TÜV geworden. Über unsere Fachgruppe Radioaktivität - wo u.a. Physiker mitarbeiten - ist so mancher Skandal hochgekommen. Zur Sicherheit der Behälter und ganz vielen Geschichten. Da erfüllen wir auch eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Sicherheitsmängel werden gern unter den Tisch gekehrt. Mir persönlich wäre es zu wenig nur in Aktionen zu denken.

Dieter: Ein weiterer Askpekt ist die Entwicklung der bürgerlichen Rechte, deren Einschränkung man im Wendland wunderbar verfolgen kann. In den 10 Jahren der Castortransporte hat sich im Grunde heraus gestellt, dass die Menschen auf der Straße ins Unrecht gesetzt worden sind. Wenn das Ganze dann aber juristisch aufbereitet wurde - das dauert dann z. T. vier bis fünf Jahre - dann stellt sich heraus, dass die Polizei in den allermeisten Fälle unrechtmäßig gehandelt hat. Das wirkt sich in vielen anderen Bereichen aus. Wenn diese juristich-bürgerrechtliche Arbeit hier nicht gemacht worden wäre, wäre die Erosion der Grundrechte womöglich im ganzen Land viel weiter voran geschritten.

Francis: Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Meinungsfreiheit und Demonstrationsfreiheit sind für uns enorm wichtig. Das sind auch wichtige Berührungspunkte zu anderen sozialen Bewegungen. Da wäre das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Schily hat angekündigt, dass jeder, der sich in Gorleben ankettet, mit einem Gentest zu rechnen habe... Solche Methoden werden auch auf andere Gruppierungen zu kommen. Zum Glück haben wir AnwältInnen, die an dem Thema interessiert sind.

Dieter: Beispiel Versammlungsrecht. Eins der zentralen Grundrechte, das durch die Polizei ständig eingeschränkt wird. Es gibt hier während des Castor-Transportes über eine Strecke von 720 km Demonstrationsverbotszonen, die 100 bis 1000 Meter breit sind. Diese Zonen werden über einen Zeitraum von bis zu 14 Tagen verhängt. Gegen diese Aushebelung des Versammlungsrechts sind inzwischen recht deutliche Urteile gesprochen worden. So konnte die Polizei bei Proteststen gegen eine ganz andere Geschichte im süddeutschen Mittelwald (gegen das kriegsverherrlichende Veteranen-Treffen der Gebirgsjäger) aufgrund der wendländischen Urteile nicht so vorgehen, wie sie es gern gewollt hätte. In Zusammenhang mit der auch für dieses Jahr zu erwartenden „Allgemeinverfügung“ hat die BI Mitte Oktober Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt.
Ein anderer Punkt: Man muss auch am praktischen Beispiel lernen, dass man seine Grundrechte auch wahrnehmen muss und wahrnehmen kann. Wir hatten neulich Besuch von einer Anti-AKW-Gruppe aus München, und die waren völlig überrascht, dass wir bei einer kurzfristigen Aktion in Lüchow einfach die Straße gesperrt haben - für kurze Zeit. Das war für München schwer vorstellbar.

1997 gab es vor dem Castortransport eine recht große Bewegung, mit Wurfankern und anderen Aktionen in den Bahnverkehr einzugreifen, um die Bahn als Atom-Tranporteurin zu schädigen. Das endetet m.E. nach der ICE-Katastrophe von Eschede am 8. Juni 1998, die zwar auf Schlamperei bei der Bahn und deren Kosten- und Lohndrückerei in der Wartung zurück zu führen war, die dennoch zeigte: Eingriff in den Schienenverkehr kann verdammt gefährlich werden und wird von Staat und Medien sicher in Zukunft anders bewertet. Zudem spekulierten die Medien in den ersten Tagen nach dem Unfall noch über eine Sabotage-Aktion als Ursache. Ein ähnlicher Tenor ließ sich auch nach dem Tod von Sébastien beobachte: Dass der Widerstand zu gefährlich sei. Rechnet ihr mit einem Abebben der Aktionen an Gleisen?

Francis: Das ist ambivalent. Zum einen gibt es im Widerstand seit Jahren einen breiten Konsens, Menschen nicht zu gefährden. Was man zum einen münzen kann auf diese Wurfanker-Geschichten, zum anderen auf den körperlichen Einsatz bei Blockaden. Sprich den Tod von Sébastien. Da ist eine ziemlich hohe Verantwortung jedes Einzelnen gefragt. Es gibt - sage ich mal - „professionelle“ Gruppen, die wissen wie sie sich an Schienen anketten, wie Greenpeace, Robin Wood und andere, vielleicht sogar namenlose Gruppen. Da ist eine gewisse Gefahr der Nachahmung ohne konkreten „professionellen“ Hintergrund. Dass die Aktion zu amateurhaft durchgeführt wird. Deshalb kann man die Aktionsform aber nicht verteufeln. Das ist eine Frage an des Bewußtsein jedes Einzelnen und der Gruppen, die das machen. Im Falle von Sébastien war das eine unglückliche Verkettung von Umständen. Er war nicht angekettet, er wollte sich anketten und ist dann von dem Sog des mit 100 km/h vorbei fahrenden Zuges angezogen mitgerissen worden und vor dem Zug gelandet.

Habt ihr das nochmal nach recherchiert? Bei meinem Vertrauen in die französische Polizei und andere Staatsorgane habe ich instinktiv mit einer Art Zufall gerechnet, der keiner war.

Francis: Wir waren direkt mit der betroffenen Gruppe in Kontakt. Wir haben die eingeladen. Die waren zu Ostern 2005 im Wendland. Es gab da einen Kulturaustausch, denn Sébastien war Mitglied einer Theatergruppe. Es ist so, dass die französische Eisenbahn-Gewerkschaft SUD-RAIL die Staatsanwaltschaft aufgefordert hat, die Ermittlungen nicht einseitig zu fahren. Denn es wurde nur gegen Sébastiens Gruppe ermittelt. SUD-RAIL hat erreicht, dass auch gegen die SNCF (frz. Bahn) ermittelt wurde. Wie der Stand der Dinge ist, wissen wir nicht. Die Gewerkschaft hat sich einerseits ganz klar mit dem Lokführer solidarisiert, aber ganz viel hinterfragt, was die Bahn betrifft. D.h. warum sind die so schnell gefahren, wo doch 90 Minuten vorher schon eine Blockade stattgefunden hatte und man davon ausgehen konnte, dass weitere folgen?

Und dass der Hubschrauber, der die Strecke observiert, ausgerechnet tanken musste...

Francis: Ja. Aber das ist wieder die Frage der Professionalität. Man darf sich halt nicht darauf verlassen, dass da wirklich ein Hubschrauber fliegt. Wenn man so ein Risiko eingeht, darf man sich nicht von gewissen Begleitumständen abhängig machen.

Dieter: Man muss auch sehen: Es hat auch nach dem fürchterlichen Tod von Sébastien kein Einhalten von Seiten der Betreiber gegeben. Wenn man überlegt, wie lang der Zug in Deutschland unterwegs war, stellt man fest, dass er eine Durschnittsgeschwindigkeit von 60-80 km/h hatte, obwohl er zwischendurch Aufenthalt hatte. D.h. man hat mit aller Macht versucht, die Verzögerungen, die entstanden sind, wieder einzufahren. Um nachzuweisen - so das Ritual der Gegenseite - wir haben keine Störungen gehabt und die Transportzeit nach Dannenberg wieder unterschritten und auch den Transport nach Gorleben auf der Straße in Rekordzeit hinter uns gebracht. Was da passiert ist unglaublich und unverantwortlich.

Francis: Nach dem Todesfall gab es hier lange Auseinandersetzung. Und eine Folge war, dass es beim letzten Transport in die Wiederaufarbeitung sowohl in Deutschland als auch in Frankreich eine Blockade gab, die von deutschen und französischen Gruppen gemeinsam gemacht wurde. Da waren auch gezielt Menschen aus dem Wendland beteiligt. Diese Blockade- und Ankett-Aktion ist gefilmt worden - im Stile eines Lehrfilms - und unter www.de.indymedia.org als Viedeo-Stream veröffentlicht worden. Das war im Dunkeln. Da sieht man eine Vorgruppe, die Leuchtraketen abgeschossen haben, um auf sich aufmerksam zu machen, als der Zug am Horizont erschien, da gab es 20 km vorher Absperrbänder... Dort wurde gezeigt, wie es gehen könnte. Der Zug blieb dann natürlich auch stehen und wurde ca. 2 Stunden aufgehalten. Diese Aktion war der Versuch, ein gemeinsames Zeichen zu setzen. Da wurde auch gesagt: Sébastien wollte vieles, unter anderem den Castor verhindern, es wäre kontraproduktiv, aufgrund seines Todes das Gegenteil von dem zu machen, was er wollte.

Dieter: Die Debatte hat hier im Wendland sehr intensiv stattgefunden. Es gibt auch Stimmen, die sagen: Keine Aktionen mehr an den Gleisen. Es ging sogar soweit, dass einige gesagt haben: keine Straßenblockaden mehr. Das hat sich aber binnen recht kurzer Zeit in einen großen Konsens aufgelöst, der besagt: Verantwortung muss übernommen werden, man muss noch dreimal vorsichtiger sein, aber wir lassen uns unsere Art und Form von Widerstand nicht einschränken. Wir wissen, was wir zu tun haben und wir werden es auch weiter tun.

Der nächste Castortransport kommt im November. Was kann man jetzt schon konkret sagen?

Am 5. November wird ab 13 Uhr eine bundesweite Demo in Lüneburg stattfinden, die von über 30 Umweltverbänden und –initiativen getragen wird. Das Motto lautet "Atomkraft Nein Danke – Erneuerbare Energien jetzt!“. Und zum Kennenlernen der Transportstrecke ins Wendland sind für den darauf folgenden Sonntag eine ganze Reihe von kulturellen und demonstrativen Veranstaltungen vorgesehen. (*3)
Am Montag, dem 7. November, dem Todestag Sébastiens, wird es bundesweit an den Bahnstrecken Mahnwachen und Aktionen geben. Im Wendland ist um 18 Uhr eine große Gedenkveranstaltung in der Nähe der Gleise bei Seerau / Hitzacker vorgesehen.

Der eigentliche Transport wird voraussichtlich am 19. November in Frankreich starten, am 20. die deutsche Grenze passieren, am 21. in Dannenberg eintreffen, wo die Behälter auf LKW umgeladen werden. Der Straßentransport auf den letzten 20 km ins Zwischenlager Gorleben wird dann voraussichtlich in der Nacht /am frühen Morgen des 22. durchgeführt werden. Während dieser Zeit – zu erwarten ist wiederum ein Versammlungsverbot per „Allgemeinverfügung“ – werden überall entlang der Transportstrecke von diversen Menschen und Gruppen Demonstrationen und Aktionen vorbereitet. Die BI wird für den 19. November um 13 Uhr in Dannenberg eine Auftaktdemonstration organisieren.

Dieter: Mittlerweile ist eigentlich deutlich geworden: Ich brauche mich eigenlich doch nur selbst auf den Weg zu machen, am besten mit einer Gruppe aus meinem Ort, fahre hier her, informiere mich. Ich komme hier irgendwo unter und finde hier auf jeden Fall Gleichgesinnte, ob in Camps oder bei Aktionen. Hier stehen alle Türen, alle Scheunen offen. Das ist eigentlich das Wunderbare und eben doch selbstverständliche in der Region hier.

Francis: Das betrifft auch Kirchen und Gemeindesäle, die bei den letzten Transporten zunehmend geöffnet wurden. Ein Angebot, das bei Extremwetterlagen im November nicht zu unterschätzen ist. Dann macht Zelten nicht mehr wirklichen Spaß.



Fußnoten
*1 Im November 2005 soll der neunte Castor-Transport nach Gorleben erfolgen

*2 Sébastien Briat gehörte einer lothringischen Bürgerinitiative mit dem Namen „Carpe Diem“ an. An der Universität war er in einer Gruppe der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft Confédération Nationale de Travail (CNT-F) aktiv.
*3 Termine rund um den Castor-Transport unter: http://www.castor.de/8termine.html