Offener Protestbrief an die Berliner Wohlfahrtsverbände

Im Folgenden dokumentieren wir einen Protestbrief des Allgemeinen Syndikats der FAU-IAA Berlin an die Berliner Wohlfahrtsverbände vom 6.11.04. Dieser Brief soll diesen auf freundliche aber bestimmte Weise sagen was wir von deren Ankündigung halten ab dem nächsten Jahr tausende 1 Euro-Jobs zu schaffen. Wenn diese sogenannten Wohlfahrtsverbände sich auf Kosten der ärmsten dieser Stadt bereichern wollen, müssen sie mit unserem entschiedenen Widerstand rechnen und der wird nicht in Form von weiteren Briefen geäußert werden.

An

Arbeiter-Wohlfahrt Landesverband Berlin e.V.
Herrn Hans-Wilhelm Pollmann

Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin e.V. Herrn
Oswald Menninger

Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg e.V.
Herrn Thomas Dane

Caritasverband für Berlin e.V.
Herrn Axel Bünner

Caritasverband für das Erzbistum Berlin
Herrn Franz-Heinrich Fischler

Deutsches Rotes Kreuz - LV Berliner Rotes Kreuz e.V.
Herrn Friedrich Führ

Jüdische Gemeinde zu Berlin
Herrn Michael May


Wohlfahrtsverbände und 1 Euro-Jobs

- Offener Brief -

Sehr geehrte Damen und Herren,

auf diesem Wege möchten wir unsere Forderung an die Träger und Verbände der freien Wohlfahrtspflege zum Ausdruck bringen, auf die Umsetzung von 1Euro-Jobs in ihrem Tätigkeitsbereich zu verzichten.

Im Zuge von Hartz IV und ALG II sind allein für Berlin laut Mitteilung des Senators für Wirtschaft bis zu 60.000 solcher Jobs vorgesehen.

Unsere Kritik richtet sich û neben grundsätzlicher Kritik an der Zielsetzung von Agenda 2010 und Hartz-Gesetzen, die einen planmäßigen Angriff auf die Rechte und Errungenschaften aller Lohnabhängigen darstellen - insbesondere auf die folgenden Punkte:

- 1 Euro-Jobs bedeuten Entmündigung und Arbeitszwang. Getreu der von der Politik vorgegebenen Leitlinie von äFördern und Fordernô werden die ALG II-AntragstellerInnen unter Androhung von Leistungskürzungen zur Unterzeichnung einer Eingliederungsvereinbarung gezwungen, die auch die Verpflichtung zur Aufnahme jedweder durch den Fallmanager zugewiesenen Tätigkeit beinhaltet. Der Vorsitzende des DGB-Landesbezirks Thüringen spricht daher zu Recht von Arbeitsdienst. Die aus dem kapitalistischen Verwertungsprozess Aussortierten werden auf diesem Weg systematisch entmündigt.

- 1 Euro-Jobs sind arbeitsrechtliches Niemandsland. Da sie als gemeinnützige zusätzliche Arbeit mit Mehraufwandsentschädigung kein reguläres Arbeitsverhältnis begründen und ohne Arbeitsvertrag stattfinden, sind sie nicht tarifiert. Für die Beschäftigten gelten die normalen ArbeitnehmerInnenrechte (Gewerkschaftsrechte, Betriebsrat, Streikrecht etc.) nicht. Damit stellen 1 Euro-Jobs einen Rückfall in frühkapitalistische Zustände dar.

- 1 Euro-Jobs bedeuten den Abschied von Maßnahmen der Arbeitsförderung. Die bisherigen Förderinstrumente nach SGB III, mit denen zwar befristete, aber regulär sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen wurden, die auf eine Weiterbeschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt zielten, sind für ALG II-BezieherInnen offenbar nicht vorgesehen. Damit wird deutlich, dass die Perspektive einer Anschlussbeschäftigung und Integration in den Arbeitsmarkt nicht länger verfolgt wird. Dies kann als Eingeständnis der Tatsache verstanden werden, dass die 1 Euro-Beschäftigten für den so genannten ersten Arbeitsmarkt als abgeschrieben betrachtet werden.

- 1 Euro-Jobs zerstören reguläre Beschäftigungsverhältnisse und führen zu Lohndumping. Gemäß der offiziellen Sprachregelung sollen 1 Euro-Jobs gemeinnützig und äzusätzlichô in dem Sinne sein, dass sie als Tätigkeiten definiert werden, die ansonsten nicht geleistet werden würden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die politisch forcierte Verbilligung der Ware Arbeitskraft zu einer systematischen Aushöhlung regulärer Beschäftigungsverhältnisse führen wird. Jede qualifizierte Tätigkeit wird daraufhin untersucht werden, welche Arbeitsbereiche in unqualifizierte 1 Euro-Jobs umgewandelt werden können, während von den qualifizierten und regulierten Tätigkeiten nur noch Reste übrig bleiben. Ergebnis ist nicht nur die Entwertung von Qualifikationen, sondern auch die weitere Beschleunigung des Lohndumpings. Gleichzeitig sinkt die Qualität der geleisteten Arbeit, was sich insbesondere im Pflege- und Betreuungsbereich extrem nachteilig auswirken wird, während parallel der Druck auf regulär Beschäftigte erhöht wird.

- 1 Euro-Jobs sind für die Wohlfahrtsverbänden lukrativ auf Kosten der BeitragszahlerInnen. Die Verbände erhalten für jeden 1 Euro-Job eine Pauschale von 500 Euro im Monat. Da gegenwärtig bei einer vorgesehenen 30 Stunden-Woche für die 1 Euro-Job-Beschäftigten von einer Aufwandsentschädigung in Höhe von knapp 200 Euro ausgegangen wird, wird bei den Verbänden ein Überschuss in Höhe von ca. 300 Euro erzielt werden. Aufgrund der Tatsache, dass die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit ihren Beiträgen das Budget der Bundesanstalt für Arbeit mitfinanzieren, profitieren die Verbände mittels des genannten Mechanismus von den Leistungen der Solidargemeinschaft, was eine Zweckentfremdungen der Beitragszahlungen darstellt.

Vor dem Hintergrund der angeführten Kritikpunkte fordern wir die Wohlfahrtsverbände auf, sich nicht zum verlängerten Arm und zu Profiteuren einer auf die Bekämpfung der Armen statt auf die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit gerichteten Politik zu machen. Stattdessen rufen wir die Verbände dazu auf, sich gemeinsam mit den Betroffenen und anderen Initiativen für die bedingungslose Rücknahme von Hartz IV und ALG II einzusetzen.

Ausdrücklich weisen wir darauf hin, dass die FAU-IAA Berlin in enger Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und Initiativen die Rolle der Wohlfahrtsverbände thematisieren und im Rahmen ihrer Möglichkeiten insbesondere die Gegenwehr der von 1 Euro-Jobmaßnahmen Betroffenen organisieren wird. Als anarcho-syndikalistische Gewerkschaftsföderation betrachten wir die Förderung der Selbstorganisation von Lohnabhängigen und die Unterstützung von Arbeitskämpfen bei ausdrücklicher Ablehnung der üblichen sozialpartnerschaftlichen Regularien û die wie dargelegt für 1 Euro Job-Beschäftigte ohnehin nicht gelten - als unser ureigenes Anliegen.

Aufgrund der genannten Kritikpunkte, die mittlerweile in der öffentlichen Diskussion zunehmend ihren Widerhall finden, fordern wir Sie zu einem Verzicht auf 1 Euro-Jobs auf. Für Rückfragen und weitergehende Erörterungen stehen wir Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

i.A.

Sekretär des Allgemeinen Syndikats FAU-IAA Berlin

Die Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) ist eine anarcho-syndikalistische Gewerkschaftsföderation mit bundesweit über 30 Ortsgruppen und verschiedenen Branchensyndikaten. International sind wir der Internationalen ArbeiterInnen Assoziation (IAA) angeschlossen. Auf Wunsch senden wir gerne Informationsmaterial zu. Oder besuchen Sie unsere Webseite unter www.fau.org.